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(1) Dogmatische Grundlagen

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Wegen der engen inhaltlichen Nähe des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zur korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist die systematische Frage des Verhältnisses beider Normen zueinander umstritten. Denn nach übereinstimmender Ansicht umfasst der sachliche Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG in seiner gebotenen extensiven Auslegung bereits das gesamte Leben und Wirken der Kirchen und somit zumindest die Essenz des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 137 Abs. 3 WRV.308 Ein Teil des Schrifttums geht aber von einer vollständigen Schutzbereichsüberschneidung aus und degradiert Art. 137 Abs. 3 WRV auf diese Weise zu einer bereits in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltenen Teilmenge.309

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Ansicht in der Literatur hat das Selbstbestimmungsrecht jedoch einen eigenständigen Regelungsgehalt gegenüber der korporativen Religionsfreiheit.310 Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sich die Schutzbereiche erheblich überschneiden. Das Selbstbestimmungsrecht enthält aber „eine notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt.“311 Diese Ansicht wird der systematischen Einordnung der unabhängig voneinander gewährten Garantien gerecht. Der eigenständige Schutzbereich des Art. 137 Abs. 3 WRV erweitert Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG um den dezidierten Schutz sämtlicher organisatorischer Aspekte des Wirkens der Kirchen, wie bspw. ihre Grundstücks- oder Vermögensverwaltung. Abstrakt lassen sich dieser Komponente all jene Aufgaben zuordnen, die nicht unmittelbar zur Erfüllung des religiösen Auftrags, aber zu dessen Vorbereitung und Unterstützung wahrgenommen werden.312 Gerade dies betrifft die Regelung von Arbeitsverhältnissen zur Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags. Die Fragen, auf welcher Grundlage Beschäftigungsverhältnisse abgeschlossen werden, welchen Inhalt sie haben und in welcher Weise der kirchliche Betrieb zu ordnen ist, sind nicht unmittelbarer Vollzug der von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützten Freiheit des Glaubens und Bekennens. Es kann damit konstatiert werden, dass das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV den Kirchen umfangreichere Freiheiten als die ihnen zustehende korporative Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG gewährt.313 Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bietet daher dort eine notwendige Ergänzung zu Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, wo die Organisation, Verwaltung und Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten nach ihrem Verständnis keine Religionsausübung im engeren Sinne darstellt.

Letztlich kann der Meinungsstreit zur Schutzbereichsabgrenzung aber nur zur Schärfung des Verständnisses von der Einordnung des Selbstbestimmungsrechts dienen, weist er doch kaum praktische Relevanz auf. Zwar bedingt die Zuordnung des institutionellen Selbstbestimmungsrechts zum jeweiligen Schutzbereich die Bestimmung der einschlägigen Schranke, die bei einer Anwendung von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG lediglich verfassungsimmanente Güter umfassen würde. Aber auch wenn man das Selbstbestimmungsrecht als vollständig in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthalten ansähe, würde bei dessen Inanspruchnahme ohnehin die Schranke des „für alle geltenden Gesetzes“ aus Art. 137 Abs. 3 WRV Anwendung finden. Denn das Bundesverfassungsgericht stellt für diesen Fall der sogenannten Schrankenspezialität fest, dass Art. 137 Abs. 3 WRV als speziellere Norm Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG bei Überschneidung der beiden Schutzbereiche vorgehe.314 In ständiger Rechtsprechung berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht dann aber bei dem Ausgleich gegenläufiger Interessen im Rahmen von Art. 137 Abs. 3 WRV, dass die korporative Religionsfreiheit zugunsten der Kirchen ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist und misst dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonders hohes Gewicht zu.315 Dieser Umstand stärkt die Rechtsstellung der Kirchen erheblich.

Schließlich kann auch trotz der fehlenden (formellen) Grundrechtsqualität des Art. 137 Abs. 3 WRV eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts prozessual mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden.316 Da das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zumindest in seinem Kernbereich auch durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützt ist, kann auf den Schultern des Grundrechts der Religionsfreiheit die Hürde der Zulässigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 GG überwunden werden.317 Dann ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Prüfungskompetenz hinsichtlich sämtlichen Verfassungsrechts – und damit auch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV – innerhalb der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde eröffnet.318

Kirchliches Arbeitsrecht in Europa

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