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ZWEITES KAPITEL Ein verhexter Morgen

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Als Marius am nächsten Morgen die Augen aufschlug, schien die Sonne durchs Fenster, als hätte es nie einen Sturm gegeben. Er streckte sich und blickte nach seinem Freund Goldauge, der noch selig träumte und leise vor sich hin schnarchte.

So gut hatte Marius schon lange nicht mehr geschlafen. Das hatte er dem weichen Lager und dem Brötchen von Don Basilico zu verdanken – und seinen Träumen, die höchst vergnüglich gewesen waren. Leider konnte er sich nicht mehr genau daran erinnern, aber er wusste doch, dass er im Traum viel zu lachen gehabt hatte.

Marius schwang sich leise auf, um Meister Goldauge nicht zu stören, und schlich zum Fenster. Sie waren hier in einem der Türme. Man konnte weit über den Wald sehen, der, wie Marius jetzt feststellte, riesig war. Ein Ende jedenfalls war nicht zu sehen. Seltsam. Scheinbar endlos erstreckten sich die kahlen Kronen der Eichen und die schwarzen Spitzen der Tannen, die dem Wald etwas Finsteres und Undurchsichtiges gaben. Von einem so großen Wald hatte Marius nichts gewusst. War das immer noch der Rabenwald? Und von einer Burg auf dem Weg war ihm auch nichts bekannt gewesen. Sie mussten irgendwann auf einen falschen Pfad geraten sein. Es galt also herauszufinden, wo sie hier waren – und wie sie wieder auf den richtigen Weg finden würden.

Im Hof, den man von Marius’ Turmzimmerfenster aus sehen konnte, war einiges los. Ständig kamen Pferdewagen und Reiter, brachten Waren und Gäste und vermutlich Nachrichten. Marius wunderte sich: Auf der ganzen Wegstrecke hatte er nicht ein einziges Mal jemanden gesehen – von dem Wagen abgesehen, mit dem er letztlich hierher gekommen war – und nun herrschte dort unten ein reges Treiben und ständig traf jemand auf der Burg ein oder reiste ab. Na ja, dachte er sich, vielleicht sind die alle einfach schlauer als ich und machen sich halt erst auf den Weg, wenn kein Sturm ist. Wer weiß, vielleicht wären wir auch in zwei Tagen hier gewesen und nicht in vier, wenn wir gewartet hätten, bis das Wetter schöner ist.

Fässer wurden über den Hof gerollt und Bündel von Wagen gehoben und von Mann zu Mann geworfen, bis sie vom Letzten in der Reihe – jetzt erkannte Marius, dass das der Küchenjunge Emerald war – in ein Mauerloch am Boden geschoben wurden, vermutlich der äußere Zugang zur Vorratskammer. Frauen trugen volle Körbe hinein und kamen mit leeren Körben zurück, unterhielten sich mit Kutschern (wohl weil sie gerne mitgenommen werden wollten) oder plauderten ein wenig miteinander. Marius fiel aber auch auf: Bei all den Menschen und trotz all der vielen Waren, die dort unten bewegt wurden, gab es nirgendwo ein Lachen zu sehen. Auf allen Gesichtern lag eine bedrückte, zögerliche Stimmung und die Bewegungen der Menschen waren verhalten. Nein, es gab keine Fröhlichkeit auf dieser Burg.

Marius hörte ein zaghaftes Klopfen an der Tür, er war nicht einmal sicher, ob er sich nicht getäuscht hatte und ob das Geräusch vom Hof heraufgedrungen war. Doch als er sich umdrehte, sah er, wie sich ein rötlicher Haarschopf hereinschob. »Entschuldige, wenn ich störe?« Xenia sprach ganz leise, so als könne es sein, dass Marius, obwohl er am Fenster stand, noch schlafe. »Keineswegs, du störst nicht«, flüsterte Marius zurück und nickte in Richtung des immer noch leise vor sich hin schnarchenden Meisters Goldauge. »Komm nur herein.«

Xenia trat ein, schloss vorsichtig die Tür und kam näher.

»Eigentlich müsste ich dich alleine sprechen«, flüsterte nun auch das Mädchen und schielte zu dem Vogel hinüber.

»Goldauge ist mein bester Freund. Er darf alles wissen.« Marius ging einen Schritt zurück.

»So meine ich das nicht«, sagte Xenia und schluckte. »Es geht um ihn. Ich denke, es ist besser, wenn du ihm sagst, was ich dir sagen möchte.«

Marius verstand gar nichts und guckte deshalb erst einmal sehr schlau und schwieg.

Wieder schluckte das Mädchen und begann leise zu erzählen: »Die Sache ist die: Wir sind hier im Rabenwald. Und dieser Wald gehörte einst zur Rabenburg, die wiederum dem Fürsten Heinrich von Rabenburg gehört. Der hatte einen Fimmel: Er hielt sich sieben Raben und glaubte, dass jeder dieser Raben ein verhexter Ritter sei.«

»Ein verhexter Ritter?«

»Ein verhexter Ritter«, bestätigte Xenia und fuhr fort. »Deshalb speiste er auch täglich mit den Raben und ließ sich von ihnen beraten. Das ging einige Jahre so, bis sich irgendwann der Bruder des Fürsten, Herzog Friedbert, mächtig ärgerte, weil ihm die fürstlichen Raben ständig widersprachen. Wenn er dafür war, dass die Burg ein neues Dach bekommen sollte, dann waren die Raben dagegen. Und wenn er dagegen war, so waren die Raben dafür. Wollte er Musik im Burgsaal, dann mochten es die Raben lieber still. Wenn er aber Ruhe wünschte, krähten sie im Chor und ließen sich dazu auf der Laute begleiten. Eines Tages platzte Herzog Friedbert der Kragen und er stellte seinen Bruder, den Fürsten, vor die Wahl: Entweder die Raben verschwinden oder ich gehe und gründe mein eigenes Reich.«

»Lass mich raten«, fiel Marius ihr ins Wort. »Der Fürst hat sich für die Raben entschieden.«

»Richtig. Er fragte nämlich die Raben um Rat, so wie er es immer tat. Und die rieten ihm, lieber den Bruder ziehen zu lassen, als sich von ihnen zu trennen.« Xenia seufzte tief: »Und seit diesem Tag sind die beiden Brüder verfeindet. Herzog Friedbert zog auf diese Burg, die damals verfallen war, ließ sie von den Bauern der Umgebung wieder aufbauen, nannte die Burg Schloss Falkenhorst und belegte alle und jeden mit einem Fluch, der zur Rabenburg gehörte, von dort her kam oder den es dorthin zog.« Marius lächelte das Mädchen etwas schief an. »Hör mal«, sagte er. »Das weiß man doch, dass es keine Hexerei gibt und dass Flüche nicht wirken. Ich finde das ziemlich albern mit den verhexten Rittern und dem Fluch auf der Rabenburg.«

Xenia nickte. »Ja«, sagte sie. »Das sagst du und du hast natürlich Recht. Aber die Menschen glauben an Hexerei und Zauberkraft. Und selbst wenn sie wissen, dass es beides nicht gibt, so fürchten sie sich doch, denn – es könnte ja trotzdem etwas dran sein ...«

»Hm, und was hat das mit Meister Goldauge zu tun?« »Das fragst du? Denk doch mal nach! Meister Goldauge ist ein Rabe. Wenn ihn Herzog Friedbert sieht oder ihn gar in die Hände kriegt ...« Xenia stand der Schreck ins Gesicht geschrieben.

Marius nickte und murmelte: »Grillhähnchen.«

Auch Xenia nickte.

»Dann müssen wir uns wohl am besten wieder auf den Weg machen, solange er uns nicht entdeckt hat.«

»Ja, ihr solltet die Burg rasch wieder verlassen.«

Marius setzte sich auf die Truhe, neben der Meister Goldauge schlief. »Das Problem ist nur ...« Und er kratzte sich am Kopf, kam dabei an die Beule, die er schon vergessen hatte und die sogleich wieder heftig zu schmerzen anfing. »Das Problem ist nur, dass wir ausgerechnet auf dem Weg sind zur Rabenburg.«

»Hm. Was ist daran ein Problem?«

»Na ja, du hast doch eben gesagt, dass jeder, der dorthin will, unter einem Fluch steht.«

Xenia lachte. »Ja, aber du hast ja selber gerade gesagt, dass Flüche nicht wirken.«

Marius legte den Kopf etwas schief und besah sich seine Fingernägel, um sie schnell unter seinem Po zu verstecken, weil sie ziemlich schmutzig waren. »Und du hast doch gerade gesagt, es könnte ja doch etwas dran sein.«

»Dran sein?«, fragte plötzlich Goldauge und raschelte mit seinem Gefieder. »Wer ist dran? Und womit?«

»Oh, äh, ich bin dran!«, rief Xenia scheinbar fröhlich aus und zwinkerte Marius heimlich zu. »Ich muss in der Küche helfen beim Gemüseputzen.«

»Küche«, sagte Goldauge. »Das klingt gut. Könnte man ihr dabei vielleicht helfen?«

»Ich glaube nicht, dass das im Augenblick das richtige für Euch wäre, Meister Goldauge.«

»Geb sie es zu! Sie befürchtet, dass wir zu verfressen sind.«

»Nein, nein. Ganz gewiss nicht«, beeilte sich Xenia zu versichern. »Marius wird es euch erklären.«

»Na ja«, wollte Marius gerade anfangen und überlegte fieberhaft, wie er Meister Goldauge klar machen sollte, dass er auf dieser Burg nicht allzu gern gesehen, ja, genau genommen in höchster Gefahr war – da pochte es plötzlich an der Tür. Erschrocken blickten Marius und Xenia dorthin, während Goldauge seine Rabenaugenbrauen hob und erstaunt von einem zum anderen schaute. »Möchte nicht einer von euch den Gast hereinbitten?«

»Goldauge«, flüsterte Marius und Schweiß stand auf seiner Stirn. »Du musst dich verstecken. Schnell!«

Das Geheimnis der Gaukler

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