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Ein unheimlicher Gast und ein seltsamer
Auftrag

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Es war ein schöner Tag gewesen. Die Alten im Dorf hatten geraunt, dass der Winter nah sei. Aber die Sonne strahlte, und Marius hatte die wenige Wäsche, die er besaß, sogar vor der Hütte zum Trocknen aufgehängt. Meister Goldauge saß auf dem Schaft eines Schwertes, das einst jemand neben dem Kamin in die Mauer gerammt hatte. Zu gerne hätte Marius die prächtige Klinge herausgezogen. Doch weder ihm noch irgendeinem Besucher seiner Hütte war es jemals gelungen. Sehr zur Freude seines Freundes Goldauge, der sich keinen würdigeren Platz für sich vorstellen konnte und sich also, wann immer sie nicht unterwegs waren, dort niederließ. Unterwegs aber waren sie oft – Marius als Bote für die kleinen Dörfer und Meister Goldauge als sein steter Begleiter und Kundschafter, der vorausflog, den Weg erkundete und Marius vor möglichen Gefahren warnte.

Doch in diesen späten Herbsttagen wurden Botengänge immer seltener. Man begann, sich langsam für den Winter zu rüsten, und war sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Da blieb für Briefe und kleine Pakete wenig Zeit. Und so hatte Marius schon seit Längerem nichts mehr zu tun gehabt, sondern brachte die Tage damit zu, die kleinen Wälder ringsum zu durchstreifen und Pilze zu suchen, die er trocknen konnte, um sie im Winter zu essen, oder Nüsse und andere Früchte, die ihn und Meister Goldauge durch den Winter brächten. Denn sie waren arm und mussten zusehen, dass sie nicht hungerten.

Im Bach hinter seiner Hütte hatte er mit der Hand zwei Fische gefangen und lange überlegt, ob er nicht wenigstens einen davon essen sollte. Aber dann entschloss er sich doch, beide zu räuchern und für kargere Tage zu lagern. Er machte ein Feuer im Kamin und begann, die Fische vorzubereiten. »Weißt du, Goldauge«, sagte er und blickte zu dem Schwert, das neben dem Kamin stak. Doch Goldauge saß nicht an seinem Platz. Der Freund war nicht zu sehen. Da entdeckte er, dass die Tür offen stand. Hatte er sie nicht geschlossen? Er schüttelte den Kopf über seine Nachlässigkeit, ging und schloss die Türe. Doch seltsam: Es war plötzlich kalt in der Hütte. Trotz des gemütlichen Feuerchens, das er im Kamin entzündet hatte, war ihm, als ginge ein eisiger Lufthauch durch den Raum. Er drehte sich um und erstarrte. Vor dem Kamin stand ein Mann, gekleidet in einen langen, dunklen Mantel, auf dem Kopf einen breiten Hut, schwere Stiefel an den Füßen. Marius brachte im ersten Moment kein Wort heraus. Wie war der Mann herein – und wie war er an ihm vorbeigekommen? Marius hatte nicht gehört, wie die Tür geöffnet worden – und er hatte vor allem nicht bemerkt, dass jemand an ihm vorbeigegangen war. »Ich muss Euch um einen Dienst bitten«, sagte der Fremde, dessen Gesicht Marius nicht erkennen konnte, weil seine Gestalt gegen das Licht des Feuers völlig dunkel erschien. Eigentlich hätte er nicht wenig Lust gehabt, den Fremden zur Rede zu stellen. Man trat nicht einfach so in ein fremdes Haus. Er hätte klopfen und um Einlass bitten müssen, er hätte sich zuerst vorstellen und warten müssen, bis Marius ihn hereinbat. Doch nun stand er inmitten dieses Raumes, den Marius sich mit Meister Goldauge teilte, groß, schwarz, unheimlich – aber auch höflich. Immerhin hatte er ihn nicht mit »du« angesprochen! Andererseits: Er hatte sich nicht vorgestellt ...

»Was wollt Ihr?«, fragte also Marius und bemühte sich, seiner Stimme nicht zu viel Freundliches, aber auch nicht zu viel Unfreundliches zu geben. Und er fügte hinzu: » Und wer seid Ihr?«

»Es geht um eine sehr wichtige Botschaft, die Ihr auf die Rabenburg bringen sollt. Ihr kennt die Rabenburg?

»Jeder kennt die Rabenburg«, sagte Marius und versuchte, den Fremden besser zu erkennen. Doch es schien ihm im Zwielicht fast, als habe sich der Mann dem Feuer zugewandt und stünde nun mit dem Rücken zu ihm. Die Rabenburg. Marius war nie auf der Rabenburg gewesen. Sie lag zwei oder drei Tagesreisen von hier im Norden. Finstere Gerüchte gab es um dieses Waldschloss, in dem Fürst Heinrich über den riesigen Rabenwald herrschte.

»Eine wichtige Botschaft an den Fürsten muss möglichst schnell und möglichst unauffällig dorthin gebracht werden.«

»Verzeiht, aber ich bin nur ein Botenjunge, der in die umliegenden Dörfer geschickt wird. Für die großen Burgen ist die Postkutsche zuständig. Und die ...«

»Die ist nicht unauffällig«, sagte der Mann und stemmte die Arme in die Seiten, so dass er noch mächtiger und riesiger wirkte. »Nein. Das geht nicht. Es braucht einen Boten, der nicht gefragt wird und den keiner kennt. Ihr seid doch auf der Burg nicht bekannt?«

Marius hätte gerne gelacht. Doch der Fremde war ihm unheimlich. Vorsichtig ging er einen Schritt näher an ihn heran. Und noch einen. Ja, der Mann stand mit dem Rücken zu ihm. Wenn Meister Goldauge jetzt auf seinem Schwert sitzen würde, er hätte ihn erkannt. »Dreht Ihr Euren Gesprächspartnern immer den Rücken zu?«, fragte Marius, mutiger als er sich fühlte.

»Nur wenn es gar nicht anders geht«, sagte der Fremde mit tiefer Stimme.

»Weshalb sollte es nicht anders gehen?«

Der Fremde schwieg einen Augenblick. Dann brummte er düster: »Ich möchte Euch nicht in Gefahr bringen. Ihr solltet besser nicht wissen, wer Euch den Auftrag erteilt.«

»Und was ist das für eine Botschaft?«, fragte Marius.

Der Fremde ächzte und griff sich in die Seite, als wäre er verletzt, hielt einen Augenblick inne, schien zu lauschen, nickte dann und sagte leise und gar nicht unfreundlich: » – Fragt Ihr immer nach dem Inhalt der Briefe, die Ihr befördern sollt?« »Nein«, erwiderte Marius mit fester Stimme. »Aber dieser Auftrag ist auch kein normaler Auftrag. Unauffällig soll es sein. Schnell soll es sein. Ihr betont, dass Ihr mich nicht in Gefahr bringen wollt. Bei einem normalen Brief muss man das nicht betonen. Und Ihr habt offenbar nicht die Absicht, mir zu sagen, wer Ihr seid.« Er holte tief Luft. »Wer sagt mir, dass ich durch diesen Brief nicht in Schwierigkeiten gerate? Und wer garantiert mir für die Bezahlung?«

Er hatte fest damit gerechnet, dass der Fremde sich auf diese deutlichen Worte hin umwenden würde. Doch er tat es nicht. Stattdessen blickte er auf zu dem Schwert, das schräg über ihm aus der Wand ragte, hielt sich erneut die Seite, ächzte, wankte ein wenig und nickte erneut. »Das sind gute und richtige Fragen. Nur so viel ...« Er schien wirklich zu leiden. Marius war sich jetzt sicher, dass der Mann verletzt sein musste. »Nur so viel: Es geht um viele Menschenleben, die gerettet werden können, wenn der Brief schnell genug in die richtigen Hände gerät, nämlich in die des Fürsten von der Rabenburg. Wenn Ihr ihn befördert, übernehmt Ihr große Verantwortung. Kommt der Brief zu spät oder in die falschen Hände, so werden viele Menschen ihr Leben verlieren.« Er schwieg für einen Moment und hielt sich mit einer Hand am Kaminsims fest, während er die andere weiterhin in die Seite presste. » Um die Bezahlung müsst Ihr Euch nicht sorgen. Nehmt, was Euer ist ...« Und er wies mit einer Hand zu dem Tisch hin, auf dem Marius auch die Fische liegen hatte. Tatsächlich: Dort lagen ein gefaltetes Pergament und ein kleiner Beutel.

»Woher weiß ich ...«, fing Marius noch einmal an.

»Dass Ihr mir trauen könnt? – Das Siegel sagt es Euch.« Und er wedelte mit der Hand noch einmal Richtung Tisch. Marius aber trat näher an den Brief heran und an den Beutel und besah sich beides. Er griff nach dem Beutel und wog ihn in der Hand. Er war schwer, beinahe so als wären darin Goldmünzen. Obwohl Marius in seinem Leben niemals Gold in der Hand gehalten hatte – mit einer winzigen Ausnahme. Er griff sich an die Brust, dorthin wo wohlverborgen unter seinem Hemd das Amulett hing. Dann nahm er den Brief zur Hand. Es war ein schweres Pergament, das mit rotem Lack versiegelt war. Sehr selten bekam Marius einen so prächtigen Brief zum Befördern. Er drehte ihn um und las:

Dem Herrn des Rabenwalds

und aller ihm zugehörigen Wäldereien,

FÜRST HEINRICH VOM RABENSTEIN

höchstpersönlich und zu eigenen Händen

Ein finsterer Fluch lastet auf der Hand.

Die unerlaubt dies Siegel bricht.

Er drehte ihn um und fuhr mit dem Finger über das Siegel. Und plötzlich kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Siegel an, presste die Hand, die eben noch so leicht auf seiner Brust gelegen hatte, gegen das Amulett und hielt den Atem an. Dann fuhr er herum, den Brief in der Faust, sein ganzer Körper in Aufruhr, und rief: »Wer hat diesen Brief geschrieben? Wem gehört dieses Siegel?«

Doch der schwarze Gast war verschwunden. Marius blickte von einer Seite der Hütte zur anderen: nichts. Er ging zwei Schritte auf den Kamin zu, blinzelte, weil er glaubte, seine Augen spielten ihm einen Streich, ging hin zu der Stelle, an der der Fremde gestanden hatte. Und sah doch nichts. Lediglich ein kleiner Flecken Blut war auf dem Boden.

Das Geheimnis der Gaukler

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