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Hunger

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Als es endlich Abend wurde und der vorletzte Tag vor dem großen Fest ein Ende nahm, beeilte sich Marius, zu seiner Kammer zu kommen. Meister Goldauge saß auf dem Fenstersims und würdigte ihn keines Blickes, als er eintrat.

»Goldauge«, flüsterte Marius atemlos. »Sieh her, was ich für dich habe.

»Was bitte hat er denn, dass er sich überhaupt noch daran erinnert, dass man hier auf ihn wartet?«, fragte Meister Goldauge ungnädig.

»Ein Brot!« Marius zog stolz hervor, was er ergattert hatte. Meister Goldauge aber machte keine Anstalten, sich darüber zu freuen, sondern blickte weiter ungerührt in die Ferne, zum Horizont. Marius ging mit müden Schritten auf den Raben zu. »Verzeiht mir, Meister Goldauge«, sagte er und strich dem Vogel vorsichtig über das nachtblaue Gefieder. »Ich wollte Euch nicht so lange alleine lassen.«

»Und warum hat er es dann getan? Warum hat er mich hier eingesperrt und hungern lassen? Warum verbirgt er mich vor der Welt, mich, seinen ältesten und treuesten Freund, mich, Meister Goldauge?« Dabei hatte er sich umgedreht und seine Flügel ausgebreitet, als wollte er die Bedeutung seiner Worte zusätzlich unterstreichen.

Marius trat zu ihm ans Fenster und blickte hinaus über den dunklen Wald zum Meer hin, das nur noch undeutlich zu erkennen war. Er seufzte. »Alles geht schief, Goldauge.« Er blickte seinem Freund ins Gesicht. »Erst sind wir in den Sturm gekommen. Dann haben wir uns verirrt. Und nun sitzen wir hier auf einer Burg fest, die uns nicht haben will und auf der wir nicht einmal sagen dürfen, wohin wir unterwegs sind.«

Als Meister Goldauge die zerknirschte Miene seines Freundes sah, hatte er Mitleid. »Das tut mir leid, aber warum machen wir uns nicht einfach davon?«

Marius streckte den Arm aus und Meister Goldauge hüpfte darauf. Sie gingen zu Marius’ Lager und setzten sich. Marius nahm die Lampe, die er von Xenia bekommen hatte, und stellte sie auf den Boden, brach das Brot in kleine Stücke und breitete diese vor seinem gefiederten Freund aus. Der nahm sehr vornehm ein Stückchen nach dem anderen und aß es mit Bedacht.

Marius aber schüttete ihm derweil sein Herz aus: »Ich habe den ganzen Tag in der Küche gearbeitet und Körbe durch die Burg geschleppt. Es gibt offenbar ein ungeheueres Festmahl hier. Ganze Ochsen werden gebraten, Berge von Pasteten gemacht und Kuchen gebacken. Stundenlang haben die Knechte Weinfässer in den Keller geschafft. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer das alles essen und trinken soll. Dabei habe ich im Hof gesehen, dass das Volk ziemlich arm ist. Du kannst dir gar nicht vorstellen, Goldauge, was für eine Freude herrschte, als die Gaukler eingetroffen sind.«

»Gaukler?«, fragte Meister Goldauge und sein goldenes Auge blitzte im Licht der Lampe.

»Ja. Zwei Fuhrwagen. Spaßige Gesellen. Aber auch seltsame Gestalten. Eine Frau ist später in die Küche gekommen und hat dem Koch allerlei Kräuter und Pülverchen verkauft. Und es waren nicht nur harmlose Sachen!«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Oh, ich habe so meine Beobachtungen gemacht ...«, sagte Marius und schwieg plötzlich. War das ein Räuspern vor der Tür? Er gab Meister Goldauge ein Zeichen, leise zu sein, und lauschte. Doch es war weiter nichts zu hören. Vielleicht war es eine Maus gewesen, die im Vorbeihuschen ein Geräusch gemacht hatte. Oder das Holz hatte gearbeitet. Nach einer Weile sprach Marius weiter: »Jedenfalls hat mich der Haushofmeister zum Küchenjungen gemacht und der Koch hat mich mit Arbeit zugedeckt, dass mir alle Knochen wehtun. Außerdem hat der Küchenjunge etwas gegen mich.«

»Ich denke, der Küchenjunge bist du?«

»Der andere. Emerald. Er ist schon länger hier. Wahrscheinlich hat er Angst, ich würde ihm seine Arbeit wegnehmen. Dabei wäre ich heilfroh, wenn ich nicht in der Küche arbeiten müsste.« Marius grübelte vor sich hin, während Meister Goldauge zu dem Wasserkrug am Kopfende von Marius’ Lager tappte, den Kopf hineinsteckte und dann wieder zu seinem Brot zurückkam. Leise sprach er, wie zu sich selbst: »Wir müssen hier weg, Meister Goldauge. Und zwar so schnell wie möglich. Am besten noch heute. Aber heute ist mir die Gefahr zu groß. Es ist zu viel los auf der Burg. Gut möglich, dass uns jemand entdeckt. Und das wäre für einen von uns beiden womöglich tödlich ...« Er blickte zu Goldauge, der sich prompt verschluckte und rasch noch einen Schluck aus dem Krug nehmen musste. »Komisch schmeckt das Wasser hier«, stellte Goldauge fest und machte sich mit schwerem Kopf erneut daran, den Rest des Brotes zu essen.

»Aber wenn hier ein Fest ist«, sagte der Rabe, »dann wird wohl kaum wenig los sein.«

»Das ist richtig.« Marius überlegte. »Es ist nicht nur diese Frau mit ihren Pülverchen«, fing er wieder an. »Überall auf der Burg stehen Wachen. Es ist, als würde der Herzog erwarten, dass etwas geschieht. Jeder belauert hier jeden. Und dann diese seltsamen Andeutungen der alten Tante von dem Mädchen. Hm. Das ist mir alles gar nicht geheuer. Ja, wir müssen weg. Morgen ist sicher noch mehr los auf der Burg. Aber übermorgen ist das Fest! Dann werden alle mit sich selbst beschäftigt sein und weniger darauf achten, was sonst geschieht. Das könnte unsere Chance sein!« Er schlug sich mit der Faust in die Hand. »Genau! Wir müssen es übermorgen Nacht versuchen.«

Meister Goldauge wollte noch etwas sagen, aber sein Schnabel war plötzlich so schwer geworden, dass er gar nicht mehr sprechen konnte.

»Ach«, meinte Marius und klang schon viel zufriedener, »das ist die Lösung.« Er stand auf und ging zu dem schmalen Ritz in der Wand bei der Truhe, wo er den Brief versteckt hatte, zog vorsichtig den Stein heraus, der davor geklemmt war, und stellte beruhigt fest, dass der Brief noch an seinem Platz war. Erleichtert ging er wieder zu seinem Lager und machte es sich gemütlich. Er nahm den Krug und trank einen großen Schluck. »Ha!«, sagte er. »Kein Wunder, dass dir das Wasser seltsam vorkam, Meister Goldauge. Wie aufmerksam von unseren Gastgebern, dass sie uns einen Krug Wein hingestellt haben. Wasser wäre mir zwar lieber gewesen, doch sie haben es sicher gut gemeint.« Meister Goldauge aber hörte ihn schon nicht mehr, er war bereits in tiefen Schlaf gesunken.

Marius streckte sich, löschte die Lampe und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Von seinem Lager aus sah er den Nachthimmel durch das kleine Fenster. Sterne blinkten draußen und warfen ein klein wenig Licht herein. Er griff nach seinem Amulett, das er um den Hals trug, und fühlte das glatte Metall, fuhr mit dem Daumen die Formen der Feder nach, die darauf abgebildet war. Vieles ging ihm durch den Kopf: Sollte er jemandem davon berichten, dass der Koch sich ein Döschen mit Gift besorgt hatte? Sollte er wenigstens Xenia warnen, dass auf der Burg vielleicht Schlimmes geschehen könnte? Tausend Fragen. Alles schien irgendwie mit allem zusammenzuhängen. Lange hätte Marius darüber nachsinnen können. Aber es war ein langer und arbeitsreicher Tag gewesen und so schlummerte auch er bald ein. Gerade noch sah er vor sich, wie er den Auftrag bekommen hatte. Er hörte die tiefe Stimme des unheimlichen Gastes und spürte die seltsame Macht, die von ihm ausging. Wie vor einigen Tagen, als er den Brief an den Fürsten erhalten hatte, stellten sich seine Haare auf, und er ahnte, dass eine unbekannte Gefahr in dem Auftrag lauerte ...

Das Geheimnis der Gaukler

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