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Ein Schatten an der Wand

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»Aufwachen, der Herr«, pflaumte Emerald, der sich jetzt ganz in der Nähe zu schaffen machte, Marius an. »Wenn du hier in dem Tempo weitermachst, dann werden wir mit dem Festmahl erst fertig, wenn die Gäste verhungert sind.«

Marius sagte nichts, sondern rupfte wie wild an seinem armen Rebhuhn. Doch was vorhin so schnell gegangen war, wollte ihm jetzt nicht mehr gelingen. Seine Hände zitterten und ihm war beim Anblick des armen Vogels flau im Magen. Die Augen liefen ihm über. Emerald lachte nur gemein und sagte: »Ich schätze, du kümmerst dich besser um die Zwiebeln und ich erledige die Flattermänner.« Mit einer blitzschnellen Bewegung hielt er Marius ein Messer vor die Nase, groß genug, damit einen Drachen zu schlachten. Doch Marius erkannte erst gar nicht, mit was für einer gewaltigen Klinge er es zu tun hatte, weil er wegen des vielen Wassers in seinen Augen kaum sehen konnte. Er nahm das Messer und trat neben Emerald. Jetzt verstand er, weshalb er in Tränen ausgebrochen war! Emerald hatte begonnen, einen Berg Zwiebeln zu schneiden, keine Armlänge von ihm entfernt.

»Bitte schön«, sagte Emerald. »Vielleicht liegt dir das mehr.« Und er grinste Marius mit fieser Miene an.

Marius nahm das Messer und begann zu schneiden. Tränen stürzten ihm über beide Wangen, die Nase lief und er schniefte wie ein kleiner Junge, dem jemand seine Schmusedecke weggenommen hat. Aber er zerhackte die Zwiebeln tapfer und schnell. Schneller als Emerald gedacht hätte. Don Basilico kam vorbei, sah ihm über die Schulter, nickte anerkennend und raunzte Emerald an: »Nimm dir mal ein Beispiel an diesem Kerl hier! Der macht es flink und ordentlich.« Marius spürte Emeralds giftige Blicke in seinem Rücken. Doch er drehte sich nicht um und er verkniff sich ein Grinsen. Als er die Zwiebeln fertig gehackt hatte, schickte ihn der Koch mit einem großen Korb voll Brot hinauf in den Festsaal. Marius hatte den Saal noch nicht gesehen. Aber es war nicht schwer, ihn zu finden: Er musste einfach dem Strom der Mägde und Knechte nachlaufen, die unablässig denselben Weg durch die Burg liefen – wenn auch in verschiedenen Richtungen. Vieles wurde herbeigetragen: Bänke und Tische, Tischdecken, Kerzenleuchter, Krüge, Polster für die feinen Damen, Girlanden aus getrockneten Herbstblumen und Tannenzweigen, Fackeln und allerlei andere Dinge, die benötigt wurden, damit es ein üppiges und prächtiges Fest würde.

Der Saal war riesig. Marius blieb am Eingang stehen und staunte. Einen so großen Raum hatte er bisher nur in einer Kirche gesehen. Das Gewölbe setzte mindestens in der dreifachen Höhe einer Kammer an, vielleicht sogar noch höher. Die Fenster waren so hoch oben, dass man sie ohne Leiter nicht erreichen konnte. Und ein jedes war so hoch wie ein normaler Raum. Zu beiden Seiten des Saals wurden Fackeln angebracht, und zwar an den Wänden ebenso wie auf eigens aufgestellten Ständern. Drei lange Tischreihen erstreckten sich über die ganze Länge des Saals und eine jede davon wurde mit weißen Tüchern eingedeckt. Die Mägde aber, die diese Arbeit verrichteten, waren schweigsam und blickten einander kaum an. Überhaupt war es fast still in dem Saal. Marius sah sich um, ob er jemanden fand, der ihm sagen konnte, wohin das Brot sollte. Doch noch ehe er jemanden ansprechen konnte, legte ihm ein klein gewachsener Mann mit dunkler Kleidung eine Hand auf den Arm und wies mit der anderen auf eine große Tafel, die seitlich aufgebaut worden war. »Dorthin«, sagte der Mann. Bevor Marius irgendetwas antworten konnte, war er schon wieder weg, verschwunden im Gewimmel der dienstbaren Geister.

Marius stellte seinen Korb ab und ging zurück in die Küche, wo er von zornigen Blicken Emeralds begrüßt wurde. Der Küchenjunge hing schwitzend über einer großen Pfanne und dünstete die Zwiebeln, die Marius geschnitten hatte. Die ganze Küche lag im Zwiebeldunst und Marius war froh, dass er noch eine zweite Fuhre in den Saal zu liefern hatte.

Auf dem Weg dahin gab es eine kleine steinerne Bank. Marius setzte sich darauf und tat, als müsse er kurz ausruhen. Als aber für einen Augenblick niemand vorbeikam, nahm er rasch einen Laib Brot aus dem Korb und steckte ihn sich unter das Wams. »Seid Ihr nicht der Junge, dem Madame Brunella einen Antrag gemacht hat?«, hörte er plötzlich eine Stimme und sah, wie sich aus dem Schatten eines Mauervorsprungs die farbenfrohe Gestalt des Barden löste. Der Gaukler trat einen Schritt auf ihn zu und musterte ihn neugierig. »Seid Ihr Knecht auf der Burg? Oder Knappe?«

»Weder noch«, beeilte sich Marius zu sagen und versuchte, das Brot unter seinem Wams so unauffällig zu halten wie möglich.

»Ich bin nur eine Aushilfe in der Küche. Eigentlich bin ich nur auf der Durchreise.«

»So, so«, sagte der Gaukler und schaute mit leuchtenden Augen den Brotkorb an. Die Laute, die er auf dem Rücken trug, klirrte leise, als er sich darüber beugte. »Dann haben wir etwas gemeinsam. Wir sind auch nur auf der Durchreise. Fahrendes Volk, wie man so sagt.« Mit den Fingerspitzen fuhr er über den Rand des Korbes und seufzte. »Wenn man doch nur etwas davon nehmen dürfte ... Aber es ist ja streng verboten. Ich habe gehört, Dieben wird auf der Burg nach alter Sitte eine Hand abgehackt. Oder, wenn das dem Täter lieber ist, ein Fuß.« Und er sah Marius mit einem schiefen Lächeln durchdringend an, ehe er ihm mit dem Handrücken auf den Bauch klopfte – geradewegs dorthin, wo Marius das Brot verborgen hielt – und munter ausrief: »Auf, mein Freund, walte deines Amtes, erledige, was zu erledigen ist. Wir sehen uns ja sicher in der Küche.« Mit diesen Worten nahm er einige Bälle aus der Tasche und lief, die Bälle munter im Kreise werfend, den Gang hinunter Richtung Küche.

Marius aber fühlte, wie ihm das Brot unsäglich auf den Magen drückte. Er hat es gesehen, dachte er. Er hat gesehen, wie ich es genommen habe. Und jetzt erzählt er es vielleicht Don Basilico ...

Das Geheimnis der Gaukler

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