Читать книгу Das Geheimnis der Gaukler - Fortunato - Страница 8
Ein besonderer Augenblick
Оглавление»Du bleibst hier und passt auf, dass er nicht wegfliegt. Ich sehe mich noch ein wenig in der Gegend um.«
»Gut. Aber was sage ich, wenn er aufwacht?«
»Er wird nicht so schnell aufwachen. Du siehst doch, er ist völlig erschöpft. Du könntest ihn schütteln wie einen Pflaumenbaum – das würde er gar nicht merken.«
»Hihi, vermutlich würde er glauben, das sei noch immer der Sturm.«
»Das ist nicht lustig, Florine! Denk doch nur, was der Arme hinter sich hat.«
»Entschuldige, Xenia«, sagte Florine. »Manchmal bin ich etwas albern.«
»Manchmal ...«
»Aber wirklich, du hast Recht! Die Augen sind wunderschön!«
»Nun sei nicht so eitel.« Xenia blickte ihre Freundin streng an und warf sich wieder die Tasche über die Schulter, die sie kurz auf dem Boden abgestellt hatte.
»Ich meine, für einen Raben...«
»Ich habe dich schon verstanden. Also bis dann.«
Während Xenia, sich eifrig umblickend, davonhüpfte und auf schnellen Pfaden über die Wiesen entschwand, beugte sich Florine über Meister Goldauge und sah ihn aufmerksam an. Er atmete ruhig und gleichmäßig, obwohl er auf der Seite lag, was kein Vogel im Schlaf mochte. Er musste sehr erschöpft gewesen sein, wenn er sich nicht einmal wie ein anständiger Vogel hatte schlafen setzen können. Sein Federkleid war tiefschwarz mit einem leichten Blauschimmer. Sein Schnabel war vornehm gebogen und hatte etwas Kluges an sich, Florine hätte nicht sagen können, weshalb. Die Augen aber waren wie ihre – nur umgekehrt: Während sie rechts ein schwarzes Auge und links ein goldenes Auge hatte, war Meister Goldauges linkes Auge schwarz und das rechte von schimmerndem Gold! Es war, als hätte der liebe Gott versehentlich zwei Augenpaare falsch gemischt.
Ansonsten waren Meister Goldauge und Florine jedoch ganz und gar verschieden! Denn sie war ein kunterbunter Vogel, dessen Kleid in kräftigen Farben schillerte und der unter allen prächtigen Federn allein eine einzige schwarze trug – und die war wohl verborgen unter dem linken Flügel, so dass man sie nur sehen konnte, wenn Florine die Schwingen ausbreitete. Das aber tat sie selten, denn sie mochte diese Feder nicht, die ihr so fremd war. Sie war ein farbenfroher Papagei in Rot und Grün und Gelb, ein wenig Weiß und einigen kecken hellrosa Flaumfedern unter dem Schnabel, ein Tag- und ein Sonnenvogel, eine Freundin fröhlicher Zeiten. Nicht wie dieser finstere Geselle, der den Winter mochte und der sich wohl fühlte, wenn es draußen eisig kalt und trüb und dunkel war, und der sich auf den leeren Feldern herumtrieb und kleine Kinder erschreckte.
Doch obwohl Florine für Krähen und Raben nicht allzu viel übrig hatte, fühlte sie sich in der Nähe von Meister Goldauge seltsam wohl. Ihr war, als würde sie ihn schon seit langer Zeit kennen. Vielleicht war es sein ruhiges Atmen, das sie so angenehm empfand. Vielleicht lag es auch an diesem goldenen Auge! Nie zuvor hatte sie einen anderen Vogel gesehen, der ein solch wundersames Auge besaß. Wenn sie ihm ins Gesicht blickte, kam es ihr fast ein bisschen vor, als würde sie in einen Spiegel schauen. Aber sonst war er ja ausgesprochen scheußlich schwarz, dieser Rabe. Keine einzige helle Feder, keine auch nur ein klein wenig freundliche Farbe am ganzen Leib.
Florine schlich um ihn herum und besah ihn sich genauer. Der Kerl musste wirklich erledigt sein. Selbst als sie ihn ein wenig an einer Schwanzfeder zupfte, weil ihr langsam langweilig wurde, rührte er sich nicht. Auch als sie seinen Flügel stupste, um sich bemerkbar zu machen – er rührte sich nicht. Sie stupste noch mal, schob und zerrte ein wenig – und dann sah sie es plötzlich und ihr wurde auf einmal ganz heiß und kalt!