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Einzug der Gaukler

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Wenig später machte sich Marius auf den Weg hinunter in den Hof. Für den Brief hatte er ein gutes Versteck gefunden. Ihn mitzunehmen, wenn er ein Bad nahm, das wäre zu gefährlich gewesen, zumal jetzt, da er wusste, dass es großen Ärger mit sich bringen konnte, allein unterwegs zur Rabenburg zu sein. Ihn aber offen irgendwo liegen zu lassen, das wäre erst recht gefährlich gewesen. Denn auf dem Brief stand schließlich dessen Empfänger. Marius sah Schrift und Siegel vor seinen Augen; in schönen, schwungvollen Buchstaben stand da:

Dem Herrn des Rabenwalds

und aller ihm zugehörigen Wäldereien,

FÜRST HEINRICH VOM RABENSTEIN

höchstpersönlich und zu eigenen Händen

Und darunter, etwas kleiner, aber unterstrichen, hatte der Absender des Briefes ergänzt:

Ein finsterer Fluch lastet auf der Hand

die unerlaubt dies Siegel bricht.

Marius hatte eine Gänsehaut bekommen, als er diese Zeilen zum ersten Mal gelesen hatte. Nein, diesen Brief konnte er unmöglich offen liegen lassen.

Vierhundertdreiundsechzig Stufen zählte er bis zur Tür nach draußen. Als er am Ende der Wendeltreppe angekommen war, war ihm so schwindelig, dass er zuerst eine Pirouette drehte, ehe er durch die Tür trat. Er hatte von Xenia erfahren, wo der Brunnen lag. Dorthin wollte er, um sich zu waschen. Ein Teich wäre ihm lieber gewesen, weil er dann ein richtiges Bad hätte nehmen können. Doch einen Teich oder See gab es in der Umgebung der Burg nicht. Das Meer war zwar nicht weit, doch war es mit Sicherheit vom gestrigen Sturm noch sehr aufgewühlt. Und hohe Wellen waren Marius zu gefährlich. Er war kein sonderlich guter Schwimmer.

Immer noch war viel los auf dem Hof. Auf Marius achtete niemand. Während er sich umsah, lauschte er auf das, was die Besucher redeten. Vielleicht würde er dadurch etwas mehr über die Burg und ihren seltsamen Herzog Friedbert erfahren.

»Seht euch vor«, hörte er eine Frau mit einer anderen tuscheln.

»Wenn Ihr dem fetten Wüterich in die Hände fallt, müsst Ihr vielleicht noch als Magd die Gäste bedienen auf dem Fest.«

Damit musste Malediktus gemeint sein. Offenbar brauchte er noch Helfer für den großen Abend.

»Der alte Haudegen hat mich wieder um meine halbe Fracht betrogen«, hörte Marius einen Mann sich gegenüber einem anderen Mann beschweren, zwei Weinhändler offensichtlich, denn sie standen neben ihren Wagen. »Schon wieder?«, fragte der andere, dessen Wagen noch voll beladen war. »Mir hat er letztes Mal einen so schlechten Preis bezahlt, dass es nicht einmal mehr fürs Brot unserer Kinder gereicht hat. Von meiner lieben Frau Gundel und mir ganz abgesehen.«

»Ja, gehungert haben wir all die letzten Monate. Dabei haben wir so viel verkauft, wie nie zuvor.«

Tatsächlich sahen die beiden Gesellen schäbig und dürr aus. Einer von ihnen stand krumm an einem langen Stock. Der andere hatte ein Loch im Hut, das größer war als der Rest des Hutes.

Zwei Kinder liefen um Marius’ Beine herum und beschwerten sich: »Heda! Steh nicht im Weg! Wir spielen Ball!« Ihr Ball aber war nichts anderes als ein vertrockneter Pferdeapfel.

Mit einem Mal verspürte Marius großes Ungehagen. Konnte es sein, dass all die Menschen hier bitter arm waren?

Der Brunnen war an einem Mauervorsprung seitlich des Burgtors gelegen. Einige junge Frauen wuschen Leinentücher, vielleicht Tischdecken für das Fest. Marius war es etwas peinlich, dort sein Hemd auszuziehen, aber er hatte keinen Trog oder Bottich, um sich etwas Wasser in ein stilles Eckchen mitzunehmen. Doch die Frauen schwatzten und waren ganz mit sich selbst und ihrer Wäsche beschäftigt, wie er feststellte. Also legte er rasch sein Wams und sein Hemd ab, krempelte die Beinkleider so weit hoch, wie es nur ging, und schöpfte Wasser, indem er den an einem langen Seil befestigten Eimer in die Tiefe hinabließ, ihn heraufkurbelte und sich, so gut es ging, im Schatten des Mauervorsprungs wusch. Was für ein Unterschied zu dem Fluten, die ihn noch gestern umspült hatten, als der Sturm ihm den Regen durch jede Faser seiner Kleider gepeitscht hatte!

Der zweite Eimer galt seinen Füßen, an denen er von der Reise Blasen hatte. Marius war barfuß den Turm herabgekommen und fühlte sich wie auf Wolken, als er nach der Katzenwäsche seinen nackten Oberkörper und die Füße in der zaghaften, aber wärmenden Sonne in einem windstillen Winkel des Hofes trocknen ließ.

Schon nach wenigen Augenblicken war Marius ein wenig eingenickt. Im Traum hörte er plötzlich in seiner Nähe ein großes Hallo. Pferde schnaubten und schüttelten ihr Geschirr, dass es nur so klimperte, kurze Anweisungen wurden über den Hof gerufen, und Leute sprangen von einem Fuhrwerk, Marius hörte Männer- und Frauenstimmen, fröhliche Klänge, ein Glöckchen, das klingelte und, ja, auch ein Lachen, ein helles reines Lachen, aufgeregte Kinder, die herbeiliefen und sich gegenseitig stießen und nach weiteren Kindern riefen, dann eine Laute, die eilig noch einmal geprüft wurde und sogleich ein Lied begleitete, jemand stieß Marius im Vorbeilaufen am Bein – und da merkte er, dass er gar nicht schlief und dass das gar kein Traum war! Gaukler waren eingetroffen und im Nu war auf dem Hof alles Volk zusammengelaufen. Alle ließen ihre Sachen liegen und stehen. Ein alter Mann saß auf dem Kutschbock, in der Hand eine große, aus bunten Lederriemen geflochtene Peitsche, auf dem Kopf einen schwarzen Hut mit roter Krempe, von seinem Gesicht waren nur die kleinen schwarzen Augen und die große Nase zu sehen, die farblich wunderbar zur Hutkrempe passte – den Rest verdeckte ein wild wuchernder schlohweißer Bart. Als aber das Lied des Barden erklang, der die Laute spielte, da öffnete sich der Bart und ein fröhlicher runder Mund stimmte in das Lied ein, mit dem die Truppe den Burgbewohnern ihren Gruß entbot:

»Es jagte Eulalia, die Prächtige,

Uns fort von ihrem Schloss.

Falls ich einmal noch dort nächtige,

Schlaf ich gleich bei meinem Ross.

Unterwegs trafen wir einen Wüterich,

Der uns scheuchte durch den Wald.

Wir teilten ihn uns brüderlich

– Und aßen den Rest dann kalt.

Alsbald kamen wir an ein Gästehaus,

Wo für Wein und Brot wir sangen.

Doch der Wirt gab uns nur seine beste Laus,

Aus den Betten stank’s wie die Pest heraus,

Dass wir schnell auf den Wagen uns schwangen.

Die Häscher von Heinrich dem Grausigen

Waren uns ganz nah auf den Fersen.

Doch die Burschen, die ganz lausigen,

Flohen vor unseren Versen.

Also trafen wir hierzumal glücklich ein

Und hoffen auf einen Humpen Wein,

Damit auch wir können glücklich sein,

Und dafür woll'n wir euch singen fein –

Und dafür woll'n wir euch singen fein.«

Und mit diesen Versen zogen alle Spielmannsleute wie auf Kommando ihren Hut oder ihre Mütze und verbeugten sich so tief, dass man hätte meinen können, sie wollten im nächsten Augenblick von ihrem Wagen herunterpurzeln und über den Hof kugeln. Die Zuschauer aber klatschten und freuten sich sichtlich, die Kinder jubelten und riefen nach mehr. Auch Marius war neugierig aufgesprungen, um sich die munteren Gesellen aus der Nähe anzusehen. Als er merkte, dass der bärtige Kutscher seine schwarzen Augen auf den Anhänger geheftet hatte, der vor seiner Brust baumelte, warf er sich Hemd und Wams über und kam neugierig heran, um den Gauklern zuzusehen.

Ein junger Mann hatte sich in die Mitte des vorderen Wagens gestellt und warf drei Bälle durch die Luft, dass einem schwindelig werden konnte. Zwei Kinder, so klein, man mochte kaum glauben, dass sie überhaupt schon laufen können, kugelten von dem Wagen herunter und machten einen Purzelbaum nach dem anderen, immer munter im Kreis herum, bis sie den Wagen zweimal, dreimal umrundet hatten. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und eisernen Ringen um die Armmuskeln nahm einen tiefen Schluck aus einer grünen Flasche, griff nach einer Fackel, die ihm eine hübsche dunkelhaarige Frau hinhielt, und spuckte, was er im Mund hielt, in das Feuer hinein, dass eine riesige Flamme über seinem Kopf stand. Der Barde aber war herabgestiegen und ging mit seiner Laute zwischen den Zuschauern umher und sang ihnen kleine Verse ins Ohr, den Frauen Hübsches, den Männern Freches, gerade so wie sie es wahrscheinlich hören wollten – und immer gerade so laut, dass es auch die anderen noch hörten und lachten.

Marius besah sich das Pferd des vorderen Wagens, eine braune Stute mit einer sternförmigen Blesse, die ein wenig unruhig mit den Vorderhufen scharrte. »Ein schönes Tier, junger Mann, nicht wahr«, sagte der Alte auf dem Kutschbock, der jetzt seinen Hut abgelegt hatte und darunter eine glänzend polierte Glatze präsentierte.

»Hm«, machte Marius, dem der Mann unheimlich war, auch wenn er ohne den Hut nicht halb so finster aussah. Halbherzig tätschelte er dem Tier den Hals und schlenderte dann zu dem hinteren Wagen, der geschlossen war und in dem die Gaukler vermutlich ihre Waren mit sich führten. Marius hatte schon einiges darüber gehört. Elixiere und Salben, Heiltrünke und Liebestrünke, falsches Gold und Zauberspiegel, Dinge, von denen man selten sprach, aber häufig flüsterte. Als er gerade am hinteren Ende des Wagens angelangt war und sich die Töpfe besah, die zu beiden Seiten aufgereiht hingen, öffnete sich die Plane und eine Frau kam heraus. Marius erschrak.

Die Frau war so häßlich, wie er noch nie einen Menschen gesehen hatte. Ihre Nase war riesig, die kugelrunden Augen blitzten unter Brauen hervor, die aussahen, als wären es aufgeklebte Hasenfelle. Nur ein einziger Zahn zierte ihren Mund, den sie zu einem schiefen Grinsen verzogen hatte. Und die Haare hingen ihr dünn und faserig und wirr nach vorne, vielleicht weil sie einen schrecklichen Buckel hatte. Als sie Marius bemerkte, glotzte sie ihn mit einem Auge an, während das andere Auge seine Blickrichtung nicht veränderte. »Oh«, sagte sie und: »Ah!« Und ihr Grinsen wurde noch schiefer. »Was haben wir denn da für einen hübschen Burschen! Willst du mich heiraten?«

Im ersten Moment sah Marius sich um, als könnte die schrecklich häßliche Frau jemanden hinter ihm gemeint haben. Doch da standen in sicherer Entfernung nur ein paar Bauern, die ihn beobachtet hatten und nun in großes Gelächter ausbrachen. »Nimm sie, Junge«, rief einer.

»Ja«, schloss sich ein anderer an. »Das ist die Gelegenheit!« »Du solltest sie dir auf keinen Fall entgehen lassen!«

»Ihr wärt ein schönes Brautpaar.«

»Na ja, ihr solltet besser in der Nacht heiraten.«

»Und am Tag schlafen!«

»Ja, das beruhigt die Nerven!«

Und während die Bauern sich kugelten vor Lachen, stolperte Marius rückwärts, haspelte noch ein kurzes »Entschuldigung« und beeilte sich, um den Wagen herum zu kommen. Doch er hatte kaum einen Schritt getan, da stand er auch schon vor Xenia, die ihn mit hochgezogener Augenbraue und spöttischem Lächeln ansah. »Kaum lässt man dich mal für eine Minute aus den Augen ...«, sagte sie.

»Mach dir keine falschen Hoffnungen«, rief einer der Bauern zu ihnen herüber. »Er ist schon vergeben!« Und noch einmal grölten die Männer los und schlugen sich auf die Schenkel vor Vergnügen, während Xenia Marius in Richtung Küche wegzog. »Du kannst nichts dafür«, flüsterte sie ihm zu, als sie über den Hof gingen. Sie spürte, dass es Marius unendlich peinlich war.

»Das gehört zu dem Spiel. Es ist jedes Jahr dasselbe. Irgendeiner fällt immer auf Bruno herein ...« »Bruno?«

»Den Kerl, der die alte Frau gespielt hat.«

»Kerl?«, fragte Marius verdattert.

Xenia blieb stehen und sah ihm ins schamrote Gesicht. »Sag bloß nicht ...« Und dann brach auch sie in schallendes Gelächter aus. »Sag bloß nicht«, wiederholte sie und schaffte es erst beim dritten Mal, ihren Satz zu Ende zu bringen: »Sag bloß nicht, du hast geglaubt, dass das wirklich eine alte Frau wäre!« Im Vorbeigehen aber konnte Marius hören, wie der weißbärtige Mann auf dem vorderen Kutschbock einem der Männer erklärte, welchen Weg sie gekommen waren. »Über Eichholz, Güldenstein und Ulmenberg. Danach findet sich ein kleiner Weiler namens Toss. Darauf folgt Goldberg, Kräh und Bleichental, danach Grauengrund, Buchberg und die Nebelkuppe. So kamen wir hierher, den langen Weg, wobei wir nicht das Städtchen Finsterling ausließen und auch nicht ...«

Mehr konnte Marius nicht hören. Doch wunderte ihn diese Wegbeschreibung. Denn er kannte alle diese Orte und er kannte ihre Reihenfolge. Der kleine Weiler namens Toss jedoch gehörte nicht dazu. Er lag in einer ganz anderen Richtung. Wundersam, doch Marius musste es wissen. Denn das war der Ort, aus dem er stammte.

Das Geheimnis der Gaukler

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