Читать книгу Das Geheimnis der Gaukler - Fortunato - Страница 9
Die Burg im Wald
Оглавление»Du musst aufwachen!«, hörte Meister Goldauge eine Stimme, die ihm von Ferne bekannt vorkam. »Es wird langsam dunkel!« Tatsächlich blickte er erneut in das Gesicht des Mädchens, das er von der Burg kannte. Nur dass er diesmal nicht in einem Turmzimmer lag, sondern unter einem Brombeerstrauch – und dass auf der Schulter des Mädchens ein ganz unglaublich bunter Vogel saß, eine Vogeldame, um genau zu sein.
»Wo ist Marius?«, krächzte Meister Goldauge und er merkte, dass es mit seiner Stimme nicht zum Besten stand.
»Dein Freund, den du gesucht hast?«
»Ja!«, rief Goldauge und sprang auf. »Ich muss gleich los! Heiliger Abraxas! Ich liege hier und schlafe gemütlich und Marius irrt umher. Vielleicht sucht er mich und ...« Aufgeregt sprang Goldauge hin und her und streckte seine Flügel, so als wolle er prüfen, ob noch alle Federn dran seien.
»Beruhige dich, Vogel«, sagte das Mädchen. »Wir werden Marius gemeinsam suchen. Sechs Augen sehen mehr als zwei.« Dabei neigte sie den Kopf etwas zu der Seite, auf der die gnädig nickende Vogeldame saß.
»Hm«, machte Meister Goldauge, soweit es seine Stimme zuließ. »Dann sollten wir aber mal voranmachen.«
»Nicht so hastig, mein Freund. Es ist fast Nacht. Wenn wir nicht hier auf dem freien Feld schlafen wollen, sollten wir zuerst zurück zum Schloss. Dort können wir etwas essen und schlafen und dann morgen früh mit neuer Kraft auf die Suche gehen.«
Das klang vernünftig. Und es klang nach Etwas-in-den-Schnabel-Bekommen. Meister Goldauge war durchaus geneigt, und doch erwiderte er: »Marius könnte in Gefahr sein. Oder er sucht uns, äh, mich ...« Von dem Mädchen und ihrem seltsamen Vogel konnte Marius ja noch gar nichts wissen.
»Oder er liegt längst in einer gemütlichen Astgabel und hat sich den Mantel über den Kopf gezogen«, hielt Xenia dagegen. Das war ein Argument. Da musste Meister Goldauge ihr Recht geben. Und dann war da ja noch die Aussicht auf etwas Essbares und ein warmes Plätzchen für die Nacht ... Und die Vogeldame! Mit der hätte er sich doch zu gerne mal etwas länger unterhalten. Also nickte Goldauge und räusperte sich, ehe er sagte: »Na gut, aber nur wenn wir uns morgen wirklich ganz früh auf die Suche machen.«
»Kein Problem!«, lachte Xenia, schüttelte ihr rötliches Haar und ging in Richtung Burg. Die farbenfrohe Vogeldame stieg in die Luft und flog ein Stück voraus, Meister Goldauge folgte in einigem Abstand. Wenn sie so gegen die Sonne flog, sah man gar nicht, wie bunt sie war. Man hätte sie für eine Rabendame halten können. Während sie dahineilten, ließ Goldauge den Blick beständig auch über die kahlen Felder gleiten. Vielleicht konnte er Marius doch irgendwo entdecken. Vielleicht hatte der Freund sich, wie so oft, aus dem Mantel ein kleines Zelt gemacht und sich zum Schlafen darunter gelegt. Aber so genau er auch schaute, Goldauge konnte weder einen Mantel sehen noch ein Zelt und erst recht keinen Marius. Alles was er sah, war eine kalte, herbstliche Landschaft, das nahe brausende Meer, einen Wald, der sich in einiger Entfernung vor ihnen erhob, und die Burg, die daraus emporragte mit ihren drei Türmen, auf deren höchstem eine grün-goldene Fahne wehte.
»Dort vorne ist es schon!«, rief Xenia und zeigte auf den Wald. Meister Goldauge flog zu ihr und blieb knapp über ihrer Schulter in der Luft. »Darf ich?«
»Aber gerne.«
Er setzte sich und es fühlte sich fast ein bisschen an wie auf Marius’ Schulter, so dass Meister Goldauge seufzen musste. Von oben aber blickte Florine auf die beiden herab und fand es gar nicht gut, dass plötzlich ein anderer Vogel ihren Lieblingsplatz besetzte.
Es dauerte noch eine Weile, ehe sie bei der Burg ankamen. Inzwischen war es wieder ganz dunkel geworden. Meister Goldauge hatte erwartet, dass sie an einem Tor klopfen oder über eine Zugbrücke gehen würden. Doch stattdessen gingen sie ein Stück weit an den Burgmauern entlang, bis sie zu einem finsteren Gestrüpp kamen.
»Hier müssen wir hinein«, erklärte Xenia und wies auf eine kaum sichtbare Öffnung unter einer großen Wurzel. Florine flatterte zu Boden und verschwand so schnell in dem Loch, dass Goldauge für einen Moment glaubte, sie habe sich einfach in Luft aufgelöst.
»Jetzt du«, sagte das Mädchen und gab ihm einen kleinen Schubs. Und schon rutschte Meister Goldauge wild flatternd in die Dunkelheit und hoffte, er möge weich landen. Tatsächlich fiel er auf ein bequemes Strohpolster und alles wäre in bester Ordnung gewesen, wäre nicht kurz nach ihm auch das Mädchen in die Öffnung gehüpft. Er hörte gerade noch den leisen Ausruf: »Vorsicht!«, doch es war schon zu spät. Xenia plumpste ihm auf die Schwanzfedern.
»Au!«, rief Meister Goldauge und biss sich auf den Schnabel. Florine fing lauthals an zu gackern, so sehr amüsierte sie sich über Goldauges Missgeschick.
»Typisch Huhn!«, schimpfte Meister Goldauge.
Empört flatterte Florine auf: »Huhn?«, kreischte sie. »Ich zeig dir gleich, was ein Huhn ist!«
»Komm du mir nur zu nahe!«, hielt Goldauge dagegen. »Dann mach ich Grillhähnchen aus dir!«
»Da hast du ja einige Erfahrung!«, schrie Florine zurück. »Man muss sich nur dein Gefieder ansehen!«
»Nun beruhigt euch aber!«, ging Xenia dazwischen. »Ihr streitet ja wie zwei wild gewordene Küken!«
Das wollten sich die beiden nicht nachsagen lassen. Deshalb drehten sie wie auf Kommando die Köpfe zur Seite und würdigten einander keines Blickes mehr.
Sie standen in einem niedrigen kleinen Raum, der nur von einer Öllampe erleuchtet war und von dem aus ein dunkler Gang ins Innere der Burg führte. Diesen Gang nahmen sie, bis sie an eine Stelle kamen, an der über ihren Köpfen ein paar Holzbretter lagen, eine Falltür, wie Meister Goldauge bei näherem Hinsehen feststellte. Xenia, nicht sehr groß gewachsen, versuchte, die Falltüre aufzudrücken. Doch sie schaffte es nicht. Vorsichtig klopfte sie an die Bretter, erst einmal, dann zweimal und dann noch einmal. »Wir werden ein wenig warten müssen«, sagte sie, als sich nichts tat.
Also warteten sie.
»Ist das die Burg, in der ich bei dem Sturm gelandet bin?«, wollte Goldauge wissen. Doch Xenia machte nur eine schnelle Handbewegung und zischte leise: »Psst.«
Sie lauschten. Man hätte eine Feder fallen gehört, so still war es auf einmal. Jetzt konnte es auch Goldauge erlauschen: Über ihren Köpfen bewegte sich jemand. Sie hörten, wie jemand sehr leise durch das Zimmer ging, nein, humpelte – denn die Schritte klangen ganz ungleich. »Wir haben Glück!«, rief das Mädchen plötzlich und klatschte in die Hände, dass Meister Goldauge fürchterlich erschrak, denn er war auf die Stille und das leise Geräusch konzentriert gewesen. »Das ist Tante Zussa!«
Sofort klopfte sie – wieder zunächst einmal, dann zweimal, dann noch einmal – gegen die Bretter, diesmal allerdings viel lauter, und es dauerte kaum eine Sekunde, da öffnete sich mit einem gruseligen Knarren die Falltür über ihren Köpfen und herunter blickte die alte Frau, die Meister Goldauge schon bei seinem ersten Aufenthalt in der Burg gesehen hatte.
»Da seid ihr ja!«, sagte sie. »Wo habt ihr euch denn herum getrieben?«
»Aber Tante Zussa«, sagte Xenia und kletterte herauf, gefolgt von ihrer Vogeldame und Meister Goldauge. »Du weißt doch, dass wir dem Raben bei seiner Suche helfen wollten.«
»Na, und ist dabei etwas herausgekommen?«
»Nein. Das heißt, ja. Also, gefunden haben wir den Vogel. Aber seinen Freund konnten wir nirgends entdecken.«
»Hm«, murmelte Tante Zussa. »So was.« Sie blickte die drei von der Seite her an und machte ein besorgtes Gesicht. »Tja, das ist natürlich ärgerlich. Aber ich denke, ihr solltet euch jetzt erst einmal stärken und mir beim Essen von eurer Suche erzählen.«
Es war wie verhext: Kaum hatte die Alte das Wort »Essen« ausgesprochen, dachte Meister Goldauge nicht mehr an Marius, sondern an Kuchen und Beeren und Früchte und Körner und was es sonst alles an Leckereien gibt, die Vogelherzen höher schlagen lassen. Florine sah ihn mit spöttischen Augen an und stichelte: »Höchste Zeit, dass der Geselle etwas zu futtern bekommt. Er denkt ja sowieso die ganze Zeit nur ans Essen.« Und nebenher murmelte sie leise, aber so dass es die anderen dennoch hören konnten: »Grillhähnchen, ts ...«
Die alte Frau klappte die Falltür zu, und erst jetzt bemerkte Goldauge, dass es der Boden einer großen Truhe war, aus der sie geklettert waren, und der sich zu dem unterirdischen Gang hin öffnete. Toll, dachte der Vogel, so kann man aus der Burg hinaus und auch in sie herein, ohne dass es jemand merkt. Für Leute, die nicht fliegen können, ziemlich praktisch.
»Moment«, sagte die alte Frau. »Zuerst müssen wir uns noch darum kümmern, dass unser Gast auf dem Weg zur Küche nicht entdeckt wird.«
»Nicht entdeckt?«, fragte Meister Goldauge, dem das eigenartig vorkam. Wieso sollte man als Gast hier nicht entdeckt werden.
»Ja, ja.« Tante Zussa wühlte in einigen Stoffen herum, die offenbar oben auf der Truhe gelegen hatten und nun daneben gestapelt waren. Ein großes blaues Tuch schien ihr für ihre Zwecke geeignet. »Hm. Das wird gut sein.« Sie legte es vor Meister Goldauge auf den Boden.
»Nicht entdeckt?«, wiederholte der.
»Mmh, ja, ja«, murmelte die weißhaarige Dame und machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Ihr so gütig sein wollt, Euch auf das Tuch zu begeben?«
Meister Goldauge war sich nicht sicher, ob er das gut fand. Allerdings schmeichelte ihm der vornehme Ton dieser seltsamen Einladung. Also hüpfte er mit großer Eleganz auf das Tuch. Tante Zussa raffte es zusammen, so dass nur noch sein Kopf herausguckte, und gab den anderen ein Zeichen.
Sie gingen einige Treppen hinauf – Tante Zussa humpelte, das Bündel mit dem Raben vorsichtig unter dem Arm, voraus – und dann wieder ein paar Stufen hinunter, dann links und noch mal links und dann wieder rechts, ehe es wieder ein paar Treppen hinunter ging und dann wieder hinauf. Ungefähr 18 Türen mussten es auf dem Weg gewesen sein und zum Schluss mussten sie noch unter einem niedrigen Balken hindurch, um vor einer schweren eisenbeschlagenen Türe zu landen. »Na«, sagte die alte Frau. »Der Weg zur Küche wird, scheint mir, auch immer weiter.« Und zu Goldauge: »Aber beim nächsten Mal brauchst du mich ja nicht mehr, jetzt kennst du ihn ja.«
Goldauge zweifelte, ob er diesen Weg noch einmal finden würde. Ob alle Wege in der Burg so kompliziert waren?
»Ach ja«, sagte Tante Zussa weiter. »Das hatte ich ganz vergessen: In der Küche wartet eine Überraschung auf euch.« Sie hob den Zeigefinger, als wollte sie sagen: Jetzt passt mal gut auf. Dann drückte sie langsam die Türe auf.
Zuerst sah Meister Goldauge nur einen großen Herd, auf dem allerlei Töpfe standen, in denen es brodelte. Dann einen Koch und einen Küchenjungen, die mit einem Teig beschäftigt waren. Dann sah Goldauge ein knisterndes Feuer, über dem sich ein riesiger Ochse drehte, und allerlei Flaschen und Schüsseln, die auf einem Tisch standen, sowie eine lange Tafel, die überhäuft war mit Köstlichkeiten. Doch was er dann erblickte, verschlug ihm völlig die Sprache. »Das ...«, wollte er krächzen, doch es kam kein Ton heraus. »Das ist doch ...« Kein Ton, nicht mal ein Piepsen. Und doch sah er es ganz deutlich, konnte es aber kaum glauben.