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ERSTES KAPITEL Ein Sturm und ein Licht, das kein Blitz ist
ОглавлениеDer wütende Sturm riss so heftig an den Bäumen, dass die Krähen sich mit ihren Schnäbeln an den Ästen festhalten mussten. Wolken fegten über das Land, als würden sie vor etwas fliehen. Immer wieder regnete es und gelegentlich ging der Regen in Schnee über. Es war finster, obwohl es noch nicht Nacht war. Nur manchmal zerriss ein Blitz die Dunkelheit und beleuchtete den Weg. Und es war eisig kalt. Marius vergrub seinen Kopf soweit es ging im Kragen. Die Mütze hatte er längst verloren und seine Kapuze blieb wegen des heftigen Windes nicht auf dem Kopf. Außerdem hatte sich Meister Goldauge dort hinein geflüchtet. Doch das spürte Marius ebenso wenig wie das Gewicht seiner Tasche, die er über den Rücken gehängt trug. Genau genommen spürte er fast gar nichts. Nicht die Müdigkeit von der langen Reise, nicht die schweren Beine, die nur noch wie von selbst liefen, stolperten oder hüpften. Aber den Sturm: Den spürte er, als wäre er selbst ein Teil von ihm. Immer wieder klatschte ihm der Regen ins Gesicht und der Wind zerzauste seine langen Haare – aber das spürte Marius natürlich auch nicht.
Unter seinem Mantel hielt er mit beiden Händen den Brief fest umklammert. Er hatte ihn zur Sicherheit aus der Tasche genommen. Es hieß, in der Gegend trieben sich Räuberbanden herum. Wenn sie ihm seine Tasche raubten, so würde er wenigstens den Brief retten können. Bei dem Wetter aber blieben wahrscheinlich auch die finstersten Räuber lieber in ihren Höhlen oder wo immer sie wohnten. Trotzdem vermied Marius es, auf Wegen und Straßen zu bleiben, sondern ging immer in einiger Entfernung daran entlang. So konnte er sehen, wer ihm entgegenkam, und war dennoch zugleich in der richtigen Richtung unterwegs. – Wenn es denn überhaupt die richtige Richtung war, in die er seit vier Tagen lief.
Seit vier Tagen war Marius nun unterwegs. Und es war, als wollte der Himmel ihm zeigen, was er alles konnte. Am ersten Tag, er hatte sich noch nicht weit von der Ortschaft Toss entfernt, war die Sonne herausgekommen, warm, hell und fröhlich wie im Frühling, obwohl es längst November war. Marius war mit seinem schweren Gepäck ziemlich ins Schwitzen geraten – und Meister Goldauge war die meiste Zeit hoch über ihm geflogen, oft weit voraus, und hatte sich über die Schnecke Marius lustig gemacht. Überhaupt war er albern und übermütig gewesen – was vielleicht mit seiner Herkunft zu tun haben mochte.
Am zweiten Tag war es deutlich kühler geworden und Goldauge hatte sich wie der König des Himmels gefühlt. Denn das waren seine Zeit und sein Reich: die Tage des Herbstes und des Winters und die Freiheit der Lüfte. Hier herrschte er und zog seine Kreise über den kahlen Feldern und manchmal weit hinaus übers Meer, von wo er ernst und majestätisch zurückkam. Doch schon am folgenden, dem dritten Tag wurde es schneidend kalt und die beiden Freunde rückten eng zusammen. Das heißt, Meister Goldauge setzte sich auf Marius’ Schulter und presste sein Gefieder eng an dessen Ohr.
Schnee beherrschte die Wege und Felder und sorgte dafür, dass die beiden die meiste Zeit damit verbringen mussten, einen Unterschlupf für die nächste Nacht zu finden.
Am vierten Tag, wurde es plötzlich wieder wärmer und die ganze Landschaft sah aus wie in Schlamm gebadet. Marius rutschte mehrmals aus und jedes Mal verwandelte sich sein Äußeres etwas mehr in einen Erdgeist. Wenn ihnen jemand begegnet wäre, er wäre wahrscheinlich schreiend davongelaufen, so wild sah der Junge aus. Meister Goldauge machte sich lustig über seinen Freund, vermied es aber wohlweislich, sich auf dessen Schulter zu setzen, wie er es sonst so gerne tat. Einerseits wollte er sich die Klauen nicht schmutzig machen und andererseits hatte er Angst, selber im Schlamm zu landen, falls Marius erneut hinfiele.
Dann aber hatte es zu regnen angefangen. Der Wind nahm ständig zu. Zunächst fand Meister Goldauge das gar nicht übel. »So wirst du wieder sauber, Marius! «, krähte er und schickte sein krachendes Lachen hinterher. Tatsächlich war der Junge nach wenigen Stunden so gründlich durchgespült, als habe er mit seiner gesamten Kleidung und seinem wenigen Gepäck ein Bad genommen. Nur den Brief, der er bei sich trug, hielt er so trocken wie irgend möglich, indem er ihn immer weiter unter der Kleidung versteckte, zuletzt direkt auf seiner kalten Haut. Denn dem Brief durfte nichts geschehen. Ihn musste er unbeschadet übers Land bringen.
»Goldauge, ich glaube, es wird langsam wieder heller«, presste Marius zwischen seinen klappernden Zähnen hervor. »Du musst nachsehen! «
Doch Meister Goldauge, der sonst immer und immer wieder vorausflog, um den Weg zu erkunden, rührte sich kaum. In solch einem Sturm war es unendlich anstrengend, überhaupt zu fliegen. Und bloß für ein bisschen mehr Licht die schützende Kapuze zu verlassen, dazu verspürte er überhaupt keine Lust. Außerdem hatte er vor den Blitzen Angst, wenn er hoch oben in der Luft war. Marius seufzte. Er verstand den Freund. Und tatsächlich konnte er auch gar nicht sicher sagen, ob es dort vorne wirklich endlich heller wurde oder ob sich am Horizont nur neue schwarze Wolken auftürmten, um dann abermals mit Gewalt über ihn und seinen Freund und alles um sie herum hinwegzudonnern. Er stolperte und fing sich, stemmte sich gegen den Wind und blieb immer wieder stehen, weil seine Füße nicht mehr weitergehen wollten. Doch er biss die Zähne zusammen und ließ sich erneut nach vorn fallen und seine Beine begannen wieder ein Stück weiterzulaufen.
Nach einiger Zeit aber schien es ihm erneut, als könnte er in der Ferne Licht erkennen. Diesmal kam es ihm weniger wie eine Lücke in den Wolken vor als vielmehr wie eine Lampe. »Meister Goldauge! «, rief er aus. Und der Vogel hörte schon an Marius’ Stimme, dass er diesmal wirklich etwas entdeckt haben musste. »Meister Goldauge! Du musst fliegen! «
»Glaubt er tatsächlich, dass es nicht nur ein Blitz war, den er gesehen hat? «, fragte Goldauge. Er sprach gerne besonders vornehm mit Marius, weil er überzeugt war, aus vornehmem Hause zu stammen. Das ließ er sich vor allem dann anmerken, wenn man ihn um etwas bat.
»Ganz bestimmt, Goldauge! Ich habe es jetzt zum zweiten Mal gesehen! «
»Dann gehe er doch einfach hin! Dann wird er schon sehen, was es dort zu finden gibt.«
»Und wenn es ein Räuberquartier ist?« Marius verschluckte sich am Regenwasser und musste heftig husten.
»Das ist ein guter Einwand«, stellte Goldauge fest und schüttelte seine vor Kälte steif gewordenen Flügel, streckte einen von ihnen nach draußen, zog ihn schnell wieder in die Kapuze hinein und nahm dann doch seinen ganzen Mut zusammen. »Bleibt die Frage, was gefährlicher ist: bei diesem Unwetter in die Luft zu steigen oder einer Räuberbande in die Hände zu fallen. « Aber das sagte er mehr zu sich selbst als zu Marius. Denn er wusste, dass Marius seinen Flugkünsten voll und ganz vertraute – und er wollte nicht, dass seinem Freund Zweifel kämen. Und so grub er sich aus seinem Unterschlupf heraus, setzte sich auf Marius’ Schulter, breitete die schwarzen Schwingen aus und ließ sich vom Wind in die Höhe heben wie ein Drachen im Herbst. Er stieg so schnell, dass Marius ihn schon nach wenigen Augenblicken nicht mehr sehen konnte. Und als der nächste Blitz am Himmel zuckte, war Meister Goldauge schon im Gewitter verschwunden und auf dem Weg zu dem Licht, das schwach in der Ferne schimmerte.
Ob es ein Haus war, in dem man Zuflucht suchen konnte? Marius hätte es gerne gewusst. Würden er und sein Gefährte dort ein Dach, ein wenig Essen und Schutz vor dem Sturm finden und trocknen können? Oder war es tatsächlich ein Räuberunterschlupf, wo diebische Kumpane sich über die Ankömmlinge freuen und wer weiß was mit ihnen anstellen würden? Marius gruselte ein wenig und ihm war, als würde seine Gänsehaut, die er der Kälte wegen hatte, vor Angst eine Gänsehaut bekommen.