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Werbung formt Ansprüche

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Dann gibt es da noch den offiziellen Sinn und Zweck von Klassenfahrten. Hier nur ein paar Schlagwörter: Team- und gemeinschaftsbildend, horizonterweiternd, neue Aktivitäten kennenlernen, altersgerecht, naturnah, Bewegung an frischer Luft, unterrichtsbegleitende Projekte und, und, und. Einer der neuesten Trends heißt ERLEBNISPÄDAGOGIK.

Kann man alles nachlesen, wenn man möchte.

Wenn man, auf der Suche nach einer für die eigene Klasse geeigneten Fahrt, die Werbetexte einschlägiger auf Klassen- und Gruppenfahrten spezialisierter Reiseunternehmen durchforstet, sieht man vor sich unweigerlich zufriedene Schülergesichter, zwei Daumen hoch mit perlweißen Zähnen in die Handykamera lächelnd, trendy gekleidet, in Funktions- und Sportkleidung namhafter Ausstatter steckend, im glitzernden Tiefschnee oder an azurblauen Stränden, auf jeden Fall aber überglücklich vor einer Traumkulisse.

Hier werden Bedürfnisse geweckt. Schüler und Lehrer werden gleichermaßen als Zielgruppe angesprochen. Immer weiter, immer besser, immer spektakulärer soll es sein. Der Reisemarkt boomt, die Konkurrenz schläft nicht. Und auch die Idee, mit Bonuspunkten Kunden zu binden oder den Marktanteil über Weiterempfehlungen zu erweitern, ist bei Veranstaltern von Klassenfahrten inzwischen ein probates Mittel. In regelmäßigen Anrufen werde ich nach meinen nächsten Zielen und Terminen befragt, Kataloge füllen meinen Briefkasten und falls mir all dies aus unerfindlichen Gründen entgehen sollte, erreichen mich zahllose Mails, von allen Anbietern, die meiner Email-Adresse habhaft werden konnten.

Ihre Klassenfahrt zu den spannendsten Zielen in Europa und Asien. Entdecken Sie mit uns atemberaubende, pulsierende Metropolen, historisch interessante Regionen oder traumhafte Naturparadiese. Ermöglichen Sie Ihrer Klasse eine kulturell ansprechende Studienfahrt, die allen Spaß macht.

Wir bieten Sport für alle: Rafting, Hochseilgarten, Klettern, Geocaching, Mountainbiking, Surfen oder Segeln sind bei unseren Klassenfahrten bereits im Preis enthalten. Selbstverständlich bieten wir auch tolle erlebnispädagogische Inhalte bei unseren Sport- & Erlebnis-Fahrten. Des Weiteren bieten wir für viele Reiseziele unterrichtsrelevante, themenbezogene Programmpakete. Dabei erleben die Schüler Geschichte, Biologie, Physik, Erdkunde, Natur und vieles mehr didaktisch aufbereitet, hautnah und in der Praxis.

Und schon stehe ich auf dem Schlauch.

Die eine Hälfte meiner Klasse kann nicht richtig schwimmen, die andere nicht Fahrrad fahren, für die einen sind 5 Kilometer Fußweg eine nicht zu bewältigende Langstreckenwanderung, die in echten oder beängstigend realistisch dargestellten Asthmaanfällen, Herzrhythmusstörungen und wütenden Fluch- und Beschimpfungstiraden gipfelt, die anderen sind danach noch so voller Energie, dass sie wilde Schlachten im Haus ausfechten und toben, als würde es kein Morgen geben. Unsere viel gelobte Heterogenität in jeder Hinsicht zieht eben auch die unterschiedlichsten Ansichten, Wünsche und geistigen sowie körperlichen Fähigkeiten und Grenzen nach sich. Zukünftige Abiturienten, Lernbehinderte, Schüler mit motorischen, emotionalen oder sozialen Störungen, Flüchtlingskinder mit fragmentarischen Deutschkenntnissen, Heimkinder und wohlbehütete Kinder aus sogenannten bildungsnahen Familien bekomme ich nicht so einfach unter einen Hut. Ganz ehrlich? Trotz aller Anstrengung: Ich bekomme sie gar nicht unter einen Hut.

Während ein kleiner Anteil Instrumente spielt, töpfert, tanzt, zaubert, reitet oder regelmäßig in einem Sportverein aktiv ist, belegt ein weitaus höherer Anteil seit genau so vielen Jahren den immer gleichen Platz auf der Couch und wechselt simultan zwischen Handy, Fernseher, Computer und/ oder Spielekonsole hin und her. Nicht selten die halbe Nacht.

Es gibt einen sehr schönen Text von Professor Dr. Müller-Limmroth, der diesen Balanceakt für mich wunderbar und perfekt beschreibt.

Wahrscheinlich gibt es nicht viele Berufe, an die die Gesellschaft so widersprüchliche Anforderungen stellt:

Gerecht soll er sein, der Lehrer, und zugleich menschlich und nachsichtig, straff soll er führen, doch taktvoll auf jedes Kind eingehen, Begabungen wecken, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und Aids-Aufklärung betreiben, auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei hochbegabte Schüler gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie begriffsstutzige. Mit einem Wort:

Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen.“

Prof. Dr. Müller-Limmroth 02.06.1988 in der "Züricher Weltwoche"

Und genauso fühlte ich mich, als wir nach dreieinhalb Stunden Fahrt aus dem Bus kletterten. Wir waren da. Meine muslimisch dominierte Gemeinschaftschulklasse aus Berlin-Neukölln stand in einem katholisch geführten Ferienobjekt im stellenweise nicht ganz linksorientierten Sachsen und wurde sehr nett von zwei lächelnden Schwestern im Habit begrüßt.

Mein ganz eigenes Feldprojekt Toleranz im gelebten Alltag konnte beginnen. Ich nahm mir vor, eine interne Punkteliste zu führen und machte mich, Voucher und Schülerlisten unter dem Arm, auf den Weg zur Rezeption.


Eine Klassenfahrt und andere Desaster

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