Читать книгу Eine Klassenfahrt und andere Desaster - Franka Abel - Страница 6
Burat hat Blutdruck
ОглавлениеÖmer durfte nicht mit. Alles Reden und Bitten waren umsonst. Die Klassenfahrt ist zu teuer und geht ja nicht mal ins Ausland. Eine der zahlenmäßig minder vertretenen Familien, die ihr Geld nicht vom Amt bekommen. Häufig wird es da ganz besonders knapp. Ob das der Grund war? Ich weiß es nicht. Wir wollten Kuchen- und Waffelbasare veranstalten und Geld über den Förderverein beantragen. Nein. Es blieb dabei. „Ömer fährt nicht mit!“ Schade. Ich mag Ömer sehr. Ein netter, sehr feiner Junge. Liebenswert, ruhig, fleißig, zurückhaltend. Viel zu zurückhaltend, finde ich manchmal.
Und Burat, ja, BURAT - „Hat Burat Blutdruck, kann Burat nicht kommen!“ Neuköllsch für: „Burat leidet derzeit stark unter zu hohem Blutdruck und kann deshalb nicht teilnehmen.“ Ein Satz am Telefon, der in den letzten drei Jahren Geschichte machte. Ich erinnere mich an seine aufkommende Panik, als er registrierte, dass die Fahrt ins Gebirge geht und wir viel zu Fuß unterwegs sein werden. ZU FUSS! IM GEBIRGE!! BERGE!!! In der 8. Klasse nahm Burat nicht an der Klassenfahrt teil, weil wir eine Fahrradtour geplant hatten. In der Gegend um Wismar. Also nahezu ohne Anstiege. „Wenn Sie mich zwingen eine Fahrradtour mitzumachen, dann haue ich einfach ab!“
Burat verweigert seit Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit mehr oder weniger erfolgreich die Teilnahme am Sportunterricht oder überhaupt körperliche Bewegung, ist übergewichtig und fehlt mehr als die Hälfte aller Schultage, immer mit ärztlichem Attest von verschiedensten Ärzten. Besonders an Tagen mit Sportunterricht und im Anschluss an die großen Ferien ist Burat schwer krank. Da ist er am letztmöglichen Rückreisetag immer transportunfähig und kann leider nicht in den ohnehin nicht gebuchten Flieger steigen. Spaßeshalber hatte ich einige Male um den Nachweis der Buchung gebeten, mit der man den ersten Schultag nach den Ferien pünktlich erreicht hätte und bei der Mutter damit einen gewissen Erklärungsnotstand ausgelöst. Deshalb kann ich das jetzt einfach so behaupten.
Eine Zeit lang versuchte sie dann während des Schuljahres meine offensichtlichen Zweifel an Burats permanenter Schulunfähigkeit auszumerzen, indem sie mir Beweisfotos schickte. Fotos vom Blutdruckmessgerät, Fotos vom Fieberthermometer, einmal erhielt ich ganze sieben Fotos von seinen Füßen, weil er sich auf einem Wandertag Blasen gelaufen hatte. Das führte zu 14Tagen Komplettausfall. Selbstverständlich mit ärztlichem Attest.
Wie es zu diesen schweren Verletzungen kommen konnte? An besagtem Wandertag - in jedem Monat ohne Schulferien gibt es einen, streng geregelt durch die Ausführungsvorschrift Wandertage - wollten wir mit unserer 8. Multikulti-Klasse tatsächlich im Berliner Forst ein paar Kilometer wandern. Wir wollten in die Müggelberge. Raus aus Neukölln. Rein in den Wald. Großes Abenteuer.
Wer die Müggelberge googelt findet bei Wikipedia folgenden Eintrag: „Die Müggelberge (früher auch Müggelsberge genannt) sind ein bewaldeter Hügelzug mit Höhen bis zu 114,7 mü. NHN[1] im Südosten Berlins im Bezirk Treptow-Köpenick. Sie werden durch den Kleinen Müggelberg (88,3m) und den Großen Müggelberg (114,7m) dominiert. Die Müggelberge umfassen eine Fläche von rund sieben Quadratkilometern. Entstanden ist der Höhenzug im Eiszeitalter.“ Ein sogenannter Endmoränenzug.
Außerdem liegen sie direkt am Müggelsee und von dort aus kann man entspannt mit einem Dampfer auf die andere Seite nach Friedrichshagen übersetzen, um dort wieder in die Berliner S-Bahn zu steigen. Eine Gegend Berlins, von der die meisten unserer Schüler, obwohl es Neuköllns direkter Nachbarbezirk ist, noch nie etwas gehört, geschweige denn etwas gesehen haben. Für diesen Ausflug hatte Burats Mutter ihm extra die super coolen, neu gekauften Schuhe ausgesucht. Das ging nicht gut.
Selbstverständlich waren es Schuhe mit Klettband. Der arme Junge konnte sich in der achten Klasse noch nicht einmal selbst die Schuhe binden und versuchte regelmäßig seine Mitschüler oder den Sportlehrer zu animieren, diesen schwierigen Part bei seinen Turnschuhen zu übernehmen. Was aus verschiedenen Gründen, zum einen pädagogische zum anderen eher olfaktorische, weder bei dem Einen noch bei den Anderen auf großes Verständnis stieß.
Ein Unter–Vier–Augen–Gespräch mit der Mutter endete in einem hysterischen, für mich vorerst völlig überraschenden und unverständlichen Lachanfall ihrerseits. Ich wechselte mit dem anwesenden Sozialpädagogen irritierte Blicke, weil wir die Mutter eigentlich vorsichtig und wie wir fanden höchst diplomatisch darauf hinweisen wollten, dass sie ihrem Sohn damit einen nicht ganz stressfreien Stand bei seinen Mitschülern verschaffte. „Aber Frau Abel, mein Sohn muss sich doch nicht selbst die Schuhe zu machen!“ Er musste sich auch nicht eigenständig die Brote schmieren oder den Müll rausbringen, sein Zimmer aufräumen, mal einen Teller abräumen oder sich Chips und Getränke eigenständig zur Couch holen. Das machte alles Mama für ihn. Das war ihr Lebensinhalt. Und nach eigenen Worten war es ihr großer Traum, zu gegebener Zeit bei ihm und einer zukünftigen Schwiegertochter mit einzuziehen, um dem Sohn auch weiterhin den Haushalt zu führen, alle Wünsche von den Augen abzulesen und ihm alles recht zu machen.
Am Anfang war ich einige Male versucht, der Mutter zu erklären, dass Blutdruck eine wichtige Voraussetzung für das Leben des Menschen an sich ist. Mir schwebte da in etwa folgende Anmerkung vor: „Ich bin sehr froh, dass Burat Blutdruck hat, sonst wäre er ja mausetot.“ Natürlich unterdrückte ich den Anfall, denn aus schmerzlicher Erfahrung weiß ich: Das kommt nicht gut an.
Zwei Jahre lang versuchten wir alles, um den Jungen regelmäßig in die Schule zu bekommen. Gespräche mit Mutter und Kind, mit Mutter ohne Kind, mit Kind ohne Mutter, mit Mutter und Familienbegleiterin vom Jugendamt, die mehr als die beste Freundin der Mutter auftrat und sich zumindest den Lippenstift mit ihr teilte, mit und ohne Sozialpädagogen, Gespräche mit der Schulleitung, Termine mit der Schulpsychologin, Einschalten des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes - auch bekannt als Amtsarzt, Schulversäumnisanzeigen - es gab schon diverse aus der Grundschule, nichts half. Burat hatte Blutdruck, Blasen an den Füßen, abwechselnd Knie-, Rücken-, Kopf- oder Magenschmerzen - Burat konnte nicht kommen. Irgendwann gaben wir auf und verwalteten ergeben die Berge von ärztlichen Attesten.
Als sie dazu überging mir auch Fotos ihrer eigenen Füße zu schicken, um ihr Fernbleiben vom Elternabend zu erklären, bat ich nachhaltig darum, dass weitere Kommunikation bitte nur noch den offiziellen Weg über unser Schulsekretariat nimmt. Das hat mir dort nicht nur Freunde eingebracht. Egal, welches Anliegen mich ins Sekretariat führt, als erstes höre ich: „Hat Burat Blutdruck, kann Burat nicht kommen.“
Ihre Handynummer habe ich der schwarzen Liste beigefügt. Seitdem kann ich wieder unbesorgt Nachrichten aller Art öffnen, während ich in ein Pausenbrot beiße.