Читать книгу Der Schrei des Subjekts - Franz Josef Hinkelammert - Страница 11
Die Verdrängung des lebenden Menschen als Subjekt im Namen der Erfüllung des Gesetzes
ОглавлениеDie Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, besteht daher in der Zerstörung des Menschen als Subjekt in allen seinen Formen. Das Gesetz erdrückt, sobald es in legalistischer Form erfüllt wird, d.h. wenn die Legitimität aus der Legalität erwächst. Die Sünde besteht natürlich nicht darin, daß das Gesetz erfüllt wird. Das Gesetz ist notwendig zum Leben. Die Kritik des Gesetzes will nicht das Gesetz abschaffen. Sie entsteht daraus, daß das Gesetz zum Leben da ist. Wird es aber in legalistischer Form erfüllt, wendet sich das Gesetz gegen dieses Leben, dem es zu dienen hat und zerstört dann dieses Leben des Menschen, das das Kriterium der Unterscheicdung des Gesetzes zu sein hat.
Jesus kritisiert dieses legalistiusch interpretierte Gesetz, und diese Kritik wird von Paulus weitergeführt. Nach Paulus liegt ein Fluch über dem Gesetz, ein Fluch, der immer dann wirklich wird, wenn man in der legalistischen Erfüllung des Gesetzes die Gerechtigkeit sucht. Dieser Fluch spricht sich darin aus, das diese Gesetzeserfüllung den Menschen tötet. Das Gesetz ist dann Gewalt, und hinter dem Rücken des Gesetzes erscheint die Sünde. Sie zerstört den Menschen und verwickelt ihn in eine große Lüge. Diese Lüge behauptet, daß das Gesetz in seiner legalistischen Erfüllung gerecht macht. Daher wird die Ungerechtigkeit begangen in Erfüllung des Gesetzes, das Gesetz verwandelt sich in eine Geißel der Menschheit. Diese Ungerechtigkeit ist daher eine Verfälschung des Gesetzes, insofern es ein Gesetz für das Leben ist. Die Ungerechtigkeit ergibt sich durch die legalistische Erfüllung des Gesetzes.
Die Ungerechtigkeit ergibt sich in der Erfüllung des Gesetzes, auch dann, wenn das Gesetz ein gerechtes Gesetz ist. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob das Gesetz als solches gerecht ist oder nicht. Eine solche Frage entsteht auf einer völlig anderen Ebene. Auch das gerechte Gesetz führt zur Ungerechtigkeit, wenn es legalistisch erfüllt wird. Selbst das “Du sollst nicht töten” oder das Gebot der Nächstenliebe führen zur Ungerechtigkeit, wenn sie legalistisch interpretiert werden. Dasselbe gilt natürlich für das Wertgesetz, das immer dann ein Gesetz ist, das tötet, wenn es legalistiusch erfüllt wird. Daß das Gesetz ein von Gott gegebenes Gesetz ist, verändert diese Situation überhaupt nicht. Auch das von Gott gegebene Gesetz führt zur Ungerechtigkeit, wenn es legalistisch angewendet wird. Das Gesetz zerstört den Menschen als Subjekt und durch seine legalistische Anwendung führt es zur Sünde.
Weder für Jesus noch für Paulus ist das Problem die Gerechtigkeit des Gesetzes. Jesus behandelt sowohl das Gesetz des Sabbats als auch das Wertgesetz als gerechte Gesetze. Es ist gerecht, die Schulden zu bezahlen. Jesus bezweifelt in keinem Fall die Gerechtigkeit dieser Gesetze. Was er bezweifelt, ist das Verhältnis zum Gesetz. Als legaler Formalismus genommen, tötet jedes Gesetz und führt daher zur Ungerechtigkeit, indem es den Menschen als Subjekt zerstört. Die Rebellion des lebenden Menschen als Subjekt verwandelt das Gesetz, sofern es es herausfordert durch die Unterscheidung in bezug auf das menschliche Leben. Sie fordert heraus und unterscheidet. Als Ergebnis kann sie auch zur Änderung des Gesetzes führen. Aber auch das neue Gesetz, auch wenn man es für gerechter hält als das vorhergehende, führt zur Ungerechtigkeit, wenn man es legalistisch erfüllt.
Das Gesetz tötet nicht etwa deswegen, weil es inhaltlich vorschreibt, zu töten. Das Gesetz tötet durch seine Form. Es führt nicht dadurch zur Sünde, daß es verletzt wird, sondern dadurch, daß es nicht verletzt, sondern in legalistischer Form angewendet wird. Aber es ist gleichzeitig die Quelle einer völlig unbegrenzten unjd unbegrenzbarer Gewalt. Aber diese Gewalt erscheint nicht als Verletzung des Gesetzes, sondern im Namen der Aufzwingung seiner legalistischen Interpretation.
Indem das Gesetz legalistisch interpretiert und angewendet wird, tötet es. Die Pflicht zur Zahlung einer Schuld, die für den Schuldner unzahlbar geworden ist, tötet den Schuldner. In der Zeit Jesu verlor der Schuldner, wenn er zahlungsunfähig wurde, allen seinen Besitz und er und seine Familie wurden in die Sklaverei verkauft. Das Gesetz der Schuldenzahlung tötete, indem es erfüllt wurde. Dieses Töten war natürlich keine Verletzung irgendeines Gesetzes. Es war das Ergebnis seiner Erfüllung. Es war aber auch nicht das Ergebnis irgendeiner Absicht des Gesetzgebers. Auch im Mittelalter verschwand der Schuldner, der nicht zahlen konnte, im Schuldturm, und kam nie wieder ins Leben zurück, wenn nicht irgendwer für ihn zahlte oder man ihm die Schulden nachließ. Heute werden ganze Völker zum Hunger verurteilt weil sie unzahlbare Schulden haben, die man dann mit Blut und Feuer einzieht. Das Gesetz tötet, obwohl das Gesetz nicht verletzt wird und das Gesetz als solches kein ungerechtes Gesetz ist. Der Schuldner kann sich daher an kein Gericht wenden. Er erleidet den Tod durch Erfüllung des Gesetzes, und das Gericht ist dazu da, die Erfüllung des Gesetzes durchzusetzen.
Dies ist die Gewalt, die in der legalistischen Anwendung des Gesetzes geschieht, der Fluch, der auf dem Gesetz liegt. Es handelt sich um eine Gewalt, gegen die das Gesetz nicht schützt, denn das Gesetz selbst ist diese Gewalt. Es handelt sich um eine Gewalt, die kein Gesetz verletzt und ist das Ergebnis eines Gesetzes, das verbietet, zu töten und das dies weiterhin verbietet. Daher stehen das Gesetz und alle Machtapparate zu seiner Sicherung auf der Seite dieser Gewalt. Es ist die Gewalt als Rechtsstaat.
Dies ist die eine und grundlegende Seite der Sünde, die hinter dem Rücken des Gesetzes geschieht und daher des Fluches, der auf dem Gesetze liegt. Dennoch hat diese Gewalt im Namen des Gesetzes noch eine andere Seite. Es ist die Seite der Aufzwingung der legalistischen Geltung des Gesetzes. Damit sich die blinde, legalistische Form der Gesetzeserfüllung ohne Widerstand durchsetzt, muß jeder Widerstand gehen die Konsequenzen dieser Gesetzeserfüllung gebrochen werden. Einen Widerstand dieser Art kann nicht der einzelne Schuldner, der eine unzahlbare Schuld hat, ausüben, denn die Gerichte werden ihn brechen. Übt er Widerstand, so muß er sterben ganz so, wie im Fall der Schuldenzahlung: erschossen oder gehenkt. Er hat keine Chance. Aber der Widerstand kann sich verallgemeinern und sich organisieren. Der Mensch als Subjekt kann seinen Widerstand in Aufstand verwandeln. Damit aber tritt die Gewalt als Gewalt für die Aufzwingung des Gesetzes auf, um jenes Subjekt zu zerstören, das Widerstand leistet und sich selbst bestätigt gegen den Tod, der aus der Erfüllung des Gesetzes folgt und der daher das Verhältnis zum Gesetz in Frage stellt. Diese Gewalt des Gesetzes läßt jetzt das Gewicht des Gesetzes über den fallen, der den Widerstand ausübt. Dies ist dann die Gewalt der Nacht der langen Messer im Namen von “law and order”. Jetzt entsteht die Gewalt, die den Terror ausübt, die Gewalt des Leviathan. Sie wird ausgeübt, damit sich nie wieder jemand sich erdreistet, den Kopf zu erheben gegenüber der Sünde, die begangen wird in Erfüllung des Gesetzes.
Diese Gewalt des Leviathan scheint ebensowenig eine Verletzung des Gesetzes zu sein. Das Gesetz verlangt die Bedingung der Möglichkeit seiner Anwendung. Der offene Terror wird jetzt zum Weg des Gesetzes. Den Völkern, die sich der Schuldenzahlung widersetzen, werden jetzt Lebensbedingungen aufgezwungen, die schlimmer sind als die, die sie im Fall ihrer totalen Unterwerfung hätten. Der Staatsterrorismus wird zur Gegenwart des Rechtsstaats.
Diese Gewalt ist nicht etwa diejenige, die in der legalistischen Anwendung des Gesetzes selbst impliziert ist, wie dies im Falle des Wertgesetzes oder des Gesetzes des Sabbats der Fall ist. Es ist die Gewalt in der Aufzwingung einer Gesetzlichkeit, deren legalistische Erfüllung selbst in Gewalt einmündet. Es gibt allerdings Typen dieser Gewalt, die durchaus spezielle Bedeutung haben.
Dabei handelt es sich zum ersten um die Gewalt, die dem auferlegt wird, der das Gesetz verletzt. Auch in diesem Falle geschieht Gewalt. Derjenige, der das Gesetz verletzt, wird mit Gewalt behandelt. Der Mörder, der das Gesetz “Du sollst nicht töten” übertreten hat, wird getötet, wo es die Todestrafe gibt, oder er wird lebenslänglich verurteilt. Man übt Gewalt aus gegen sein Leben, weil er Gewalt ausgeübt hat in Verseletzung des Gesetzes. Diese Gewaltausübung gilt nicht selbst als Gesetzesverletzung, sondern als gerechte Antwort auf eine Gesetzesverletzung. Der Mörder hat getötet, folglich ist er selbst zu töten. Indem der Mörder getötet wird, gilt das verletzte Gesetz als wieder hergestellt. Damit ergibt sich eine Gewalt gegenüber dem menschlichen Leben, die nicht als Verletzung des Gesetzes gilt, sondern als seine Wiederherstellung. Diese Gewalt schließt je nach Kulturtradition Gefängnis, Folter, Todestrafe und Enteignung ein. Aber es handelt sich immer um eine Gewalt, die das Gesetz selbst fordert und die unter Anwendung des Gesetzes ausgeübt wird, sodaß sie nicht als Gesetzesverletzung interpretiert wird.
Es handelt sich hierbei um spezifische Gewalt, die spezifischen Gesetzesübertretungen gegenüber angewendet wir und die vom Gesetz selbst normiert wird. Jesus in seiner Gesetzeskritik geht nur am Rande auf diese Gewalt ein, mit der das Gesetz auf Gesetzesübertretungen reagiert. In der Geschichte von der Ehebrecherin, die ich weiter oben zitiert habe, sieht man seine Stellung gegenüber dieser Gewalt. Jesus diskutiert nicht einmal das Problem der Verhältnismäßigkeit zwischen der Übertretung des Gesetzes, die im Ehebruch besteht, und der verhängten Todesstrafe. Was er kritisiert ist die Heuchelei derer, die sie verurteilen. Es ist die Heuchelei der angeblichen Unschuld gegenüber der Schuldigen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Was in dieser Geschichte bedeutet: Wer von euch ohne Ehebruch ist, werfe den ersten Stein.
Hier wird die Unschuldsvermutung gegenüber dem Richter – und dem Ankläger - aufgehoben. Kein Richter ist unschuldig. Er ist Komplize des Verbrechens, über das er urteilt. Es geht hier nicht um mildernde Umstänge für den Angeklagten und auch nicht die feine psychologische Frage, ob er vielleicht als Kind zu heiß gebadet worden ist. Es geht um die Verwicklung des Richters in das Verbrechen. In dieser Geschichte nimmt auch Jesus sich davon nicht aus, denn auch er wirft nicht den ersten Stein.
Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß Johannes kein letztes Gericht mit einem allwissenden, unschuldigen Richter kennt. Gemäß Johannes sagt Jesus: Denn Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. (Joh 3,17) Der Mensch lebt sein Gericht, und dieses ist das letzte. Das Gericht ist dieses Leben und wie man es führt. Aber dies heißt keineswegs, daß es dem Guten gut geht und dem Bösen schlecht im Sinne des Erfolgs im Leben, sondern im Sinne eines in-der-Wahrheit-sein. Diese Wahrheit aber ist kein Bekenntnis, sondern ein Weg.
Aber auch diese spezifische Gewalt gegenüber spezifischen Übertretungen ist Teil eines Kreislaufs der Gewalt. Das Gesetz, das legalistisch erfüllt wird, zerstört den Menschen. Der Mensch aber kann sich jetzt als Subjekt, das rebelliert, gegenüber dem Gesetz verhalten. In diesem Fall aber verwandelt sich das Gesetz in den Leviathan und wendet die Gewalt des Leviathans an. Damit aber geht die Gewalt über alle spezifische Gewalt hinaus und wird zum Terror. Das Gesetz entwickelt eine jetzt unendliche Fähigkeit zur Gewalt, die überhaupt keinen Gesetzen mehr unterliegt. Diese Gewalt als Terror zwingt jetzt die Gesetzlichkeit selbst auf, und ihr gegenüber kann man auf kein Gesetz zurückgreifen. Es ist die Gewalt des Ausnahmezustands, in der im Namen des Gesetzes alles Gesetz zur Verfügung steht. Diese Gewalt kennt keine Grenzen und stellt die andere Seite der Gewalt dar, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Sie bezieht sich nicht auf spezifische Transgressionen und antwortet auch nicht durch spezifische, normierte Gewaltausübung. Ihr Ziel ist die Sicherung der Gesetzlichkeit selbst und ihre Mittel unterliegen keinen Normen.
Jesus gegenüber wird nicht etwa eine spezifische Gewalt angewendet, die sich auf spezifische Übertretungen von Gesetzen bezieht. Er wird nicht etwa bestraft, weil er das Gesetz des Sabbats oder des Privateigentums verletzt hat. Er hat durchaus beide Gesetze verletzt, aber die Gewalt, die er erleidet, ist nicht eine spezifische Strafe für spezifische Gesetzesverletzungen. Jesus hat das Gesetz selbst in Frage gestellt als Gesetz, das durch Legalität legitim zu sein bansprucht. Er stellte alles Verhältnis zur Gesetzlichkeit selbst in allen ihren Verästelungen in Frage. Seine Gesetzeszverletzungen geschehen bewußt und Jesus gibt ihnen symbolische Bedeutung, um die Gesetzlichkeit selbst in Frage zu stellen. Er bestand auf dem menschen als Subjekt gegenüber dem Gesetz, und stellte damit alles geltende Gesetz seiner Zeit in Frage. Vom Standpunkt eines Gesetzes, das sich als Gesetz Gottes versteht, beging er tatsächlich Blasphemie. Dieselbe Blasphemie begeht er einem Gesetz gegenüber, das sich als Gesetz der Vernunft versteht. Ob sich das Gesetz als Gesetz Gottes oder als Gesetz der Vernunft versteht, ist hier völlig zweitrangig. Wenn es sich als formale Gesetzlichkeit versteht, die durch legalistische Gesetzeserfüllung gerecht macht, handelt es sich immer um heterogene Ethiken, die den Menschen zerstören.