Читать книгу Der Schrei des Subjekts - Franz Josef Hinkelammert - Страница 15
Die Bedeutung dieser Szene
ОглавлениеDiese gesamte Szene ist äußerst überraschend. Hier wird der extremste und radikalste Zusammenstoß des ganzen Johannesevangeliums berichtet. Jesus stößt kein einziges mal mit seinen Gegnern aus der jüdischen Orthodoxie in solch extremer Weise zusammen. Und gerade diese Szene bezieht sich auf einen Zusammenstoß mit Gläubigen. Eine ähliche Radikalität des Zusammenstosses gibt es nur noch im Falle des Judas. Aber auch in diesem Falle handelt es sich um den Zusammenstoß mit einem Gläubigen und nicht mit einem Vertreter der jüdischen Orthodoxie. Auch im Falle des Judas handelt es sich nicht um den Zusammenstoß mit einem “Juden”, - wie dies die spätere antijudaische und antisemitische Lektüre dieser Texte behauptet - sondern, wenn man dieses Wort hier benutzen will, um den Zusammenstoß mit einem Christen. Es handelt sich um das Problem der Apostasie.
Die kommentierte Szene erweckt Aufmerksamkeit. Johannes ist derjenige Evangelist, der am wenigsten als Chronist schreibt. Er schreibt wirklich ein Welttheater. Was aber kann dafür diese Szene bedeuten?
Ich nehme an, daß Johannes in dieser Szene etwas sagt, ohne es zu sagen und man könnte sich fragen, was das wohl sein könnte. Ich nehme an, daß Johannes, wenn er diesem Konflikt zwischen Jesus und seinen Gläubigen einen so herausragenden Ort gibt, sich nicht einfach auf etwas bezieht, was in der Vergangenheit tatsächlich geschehen ist. Man kann daher annehmen, daß er durch diese Szene hindurch etwas beleuchten will, was in seiner Zeit, in der erschreibt, geschieht. Johannes spricht zu Christen seiner Zeit und will ihnen etwas vermitteln. Man kann daher annehmen, daß diese Kirche, zu der Johannes spricht, gerade diesen Konflikt erlebt, von dem er als Konflikt der Vergangenheit spricht. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Kirche, in der Johannes tätig ist, dieser Konflikt um den Glauben ausgetragen wird, den Johannes an Hand eines Konfliktes zwischen Jesus und seinen Gläubigen darstellt. Es ist ebenfalls möglich, daß dieser Konflikt in der Kircher, zu der Johannes spricht, sogar gewaltsame Formen angenommen hat.12 Dies würde dann bedeuten, daß Johannes, wenn auch in verschlüsselter Form, von diesem Konflikt spricht. Die Christen sind nicht nur von den Römern oder den Juden der Synagoge verfolgt, sondern auch von Christen. Der Glaube an Jesus ist in einem Konflikt mit dem Glauben des Jesus.
Das Evangelium des Johannes läßt eine solche Vermutung aufkommen. An einem andern Ort läßt Johannes Jesus sagen:
“Sie werden euch aus den Synagogen ausstoßen. Ja, es kommt die Stunde, wo jeder, der euch tötet, Gott damit einen heiligen Dienst zu erweisen glaubt.” (Joh 16,2)
Die Juden hatten zu dem Zeitpunkt, als Johannes das schrieb, die Christen aus den Synagogen ausgeschlossen. Aber der zweite Teil des Satzes bezieht sich nicht auf die Juden. “Jeder, der euch tötet” bezieht sich auf alle. Es schließt vor allem die Christen selbst ein. Auch Christen können diejenigen verfolgen und töten, die den Glauben des Jesus zum ihren machen, der darin besteht, nicht zu töten. Dieser Art Christenverfolgungen durch Christen ziehen sich durch unsere gesamte Geschichte hindurch und geschahen möglicherweise bereits in der Zeit der Niederschrift des Johannesevangeliums. Im ersten Johannesbrief kommen solche Konflikte zum Ausdruck:
“Liebe Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommt, so sind auch jetzt schon viele Antichristen aufgetreten. Daran erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist. Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen; aber sie gehörten nicht zu uns.” (1 Joh 2, 18-19)
Auch hier ist klar, daß die Antichristen Christen sind, die sich dem Glauben des Jesus widersetzen. Sie sind “aus unserer Mitte” hervorgegangen. Für Johannes ist nicht etwa jeder ein Antichrist, der gegen Christus ist. Der Antichrist ist ein Christ, der im Namen des Christentums gegen Christus ist. Unter dem Schein, ein Christ zu sein, verfolgt er Christus. Der Antichristus wird hier als Spiegelbild des Christus gesehen. Er scheint Christus zu sein, aber er ist es nicht. Ob er aber der Christus ist oder der Antichristus, kann man aus dem Spiegelbild nicht ableiten. Es folgt aus seiner Haltung zum Mord.13 Das Nein zum Töten gibt das Wahrheitskriterium, um wissen zu können, wer der Christus und wer der Antichristus ist.
Es überrascht dann nicht, daß der erste Johannesbrief eine Art Zusammenfassung der kommentierten Szene gibt:
“Daran werden die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels offenbar. Jeder, der nicht Gerechtigkeit übt, ist nicht aus Gott, und der seinen Bruder nicht liebt. Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, daß wir einander lieben sollen. Nicht wie Kain, der aus dem Bösen war und seinen Bruder ermordet hat. Und warum hat er ihn ermordet? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht. Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch haßt. Wir wissen, daß wir aus dem Tod ins Leben hinübergeschritten sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tode. Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder und ihr wißt, daß kein Menschenmörder ewiges Leben als dauernden Besitz hat.” (1 Joh 3,10-15)
Ich bin überzeugt, daß all dies einen tiefen Konflikt in der christlichen Kirche zur Zeit des Johannes anzeigt, in dem Johannes seinen Standpunkt bezieht. Aber es schließt eine Kritik an aller späteren Geschichte des Christentums ein. Dies bedeutet keineswegs, daß Jahannes ein Wahrsager war. Indem er seine eigene Zeit versteht, versteht er vieles davon, was später geschehen wird. Ein Maler sagte: Willst du ein universales Gemälde malen, male dein Dorf. Johannes malt sein Dorf und schafft ein universales Welttheater.