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Die Körperlichkeit und das Nein zum Töten

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Sicher, wer die Welt von einem Prinzip her denkt wie das Nein zum Töten, kann schwerlich das Imperium christianisieren. Er kann sicher die Bevölkerung des Imperiums überzeugen, das Imperium aber nicht. Dieses begründet seine Existenz darauf, daß es gute Gründe zum Töten gibt.

Daher war es ein anderes Christentum, das das Imperium christianisierte. Um das Imperium christianisieren zu können, mußte sich das Christentum umwandeln. Diese Umwandlung ist in Wirklichkeit eine Umkehrung in sein Gegenteil. Schon die Sündenvorstellung des Augustinus ist das Gegenteil der Sündenvorstellung des Johannes. Augustinus kennt überhaupt die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, nicht mehr. Für Augustinus ist alle Sünde eine Gesetzesübertretung. Der Kampf gegen die Sünde ist daher bei Augustinus ein Kampf gegen Wollust und Begehrlichkeit. In allen spontanen körperlichen Reaktionen entdeckt er diese Begehrlichkeit und daher eine wirkliche oder mögliche Gesetzesverletzung. Augustinus entwickelt das Ideal einer Körperlichkeit ohne diese Begehrlichkeit und er entwickelt die Moral als eine Annäherung an diese Körperlichkeit, die nicht Begehrlichkeit ist. Wenn der Sklave seine Freiheit fordert: Begehrlichekeit. Wenn das Kind nach Milch schreit: Begehrlichkeit. Überhaupt, das Leben genießen ist jetzt Begehrlichkeit. Die Sünde macht sich in der körperlichen Begehrlichkeit allgegenwärtig, und im Namen eines “spirituellen” Körpers, der ein Körper ohne Begehrlichkeit ist, wird der sinnliche Körper verurteilt, um gegen ihn zu kämpfen.

Das Gesetz steht immer auf Seiten des Kampfes gegen die Begehrlichkeit. Je mehr gegen die Begehrlichkeit gekämpft wird, umso mehr verabsolutiert sich das Gesetz und umso mehr geht der Kampf gegen die Körperlichkeit selbst. So wird das Gesetz absolut und als das Gesetz Christi auferlegt. Es ist das Gesetz der Universalisierung des abstrakten Körpers ohne Begehrlichkeit, was als Ideal aller Menschlichkeit auftaucht, gegen den realen Körper mit seinen sinnlichen Reaktionen.

Dieser Kampf des idealisierten Körpers als Ideal des Körpers ohne Sinnlichkeit gegen den konkreten, sinnlichen Körper, der als Begehrlichkeit denunziert wird, ist keine “Sklavenmoral”. Es ist gerade eine Herrenmoral. Es ist die Form, in der die Herrschaft sich verteidigt gegen die Moral der Unterdrückten, die die Sünde anklagt, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Alle Rebellion der Unterdrückten findet statt gegen die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Nur so kann sie sich der Autorität entgegenstellen. Die Herrschaft antwortet auf diese Kritik durch die Unterdrückten und schafft dann diese totale Vorstellung der Sündigkeit. Dies tut Augustinus mit seinem Kampf gegen die körperliche Begehrlichkeit. Er kann jetzt diejenigen, die Gerechtigkeit fordern und die Sünde anklagen, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, der Begehrlichkeit anklagen.

Auf diese Weise kann Augustinus die Rebellion des Sklaven als ein Produkt der durch die Begehrlichkeit wirkenden Sündigkeit darstellen. Sie ist cupiditas oder auch libido. Selbst Cicero hatte bereits in diesem Zusammenhang von libido gesprochen, ohne darauf bereits eine Thesis der universalen Sündhaftigkeit aufzubauen, wie es dann Augustinus tut. Nietzsche nimmt diese Tradition auf und spricht in eben diesem Zusammenhang von Ressentiment. Nietzsche tut dies gegenüber den Emanzipationsbewegungen, die im XIX. Jahrhundert entstanden waren. Nietzsche antwortet ihnen mit der Anklage des Ressentiments, so wie Augustinus solchen Emanzipationsbewegungen, die aus christlichen Wurzeln entstanden, zu seiner Zeit mit dem Vorwurf der Begehrlichkeit begegnete. Beide, Nietzsche und Augustinus argumentieren mit dem Argument einer wahren Körperlichkeit, die dieser sinnlichen und begehrlichen Körperlichkeit entgegengesetzt ist. Bei Augustinus ist dies der idealisierte Körper ohne Begehrlichkeit, bei Nietzsche ist es die Negation der Körperlichkeit des andern im Namen des Willens zur Macht. Es zeigt sich dann, daß der Vorwurf des Ressentiments von seiten Nietzsches nicht so weit von dem Vorwurf der Begehrlichkeit von seiten Augustinus entfernt ist wie Nietzsche es glaubt.18 Es überrascht dann auch nicht, daß Nietzsche in solchen Zusammenhängen selbst ganz wie Augustinus das Wort “Begehrlichkeit” benutzt.19

Spätestens von Augustinus an wird das Nein zum Töten in sein Gegenteil verwandelt. Wenn Nietzsche von der Umwertung aller Werte spricht, die die Umwertung aller Werte, die Paulus durchgeführt hatte, wieder umwerten sollte, so entgeht ihm völlig, daß ja bereits Augustinus mit dieser Umwertung aller von Paulus umgewerteten Werte begann. Augustinus ist ein Mann der Herrschenden, der für die Herrschaft Werte zurückgewinnt, die von Paulus, aber ebenso auch von Johannes, als Werte der Unterdrückten herausgestellt wurden. Die Umwertung der Werte bei Nietzsche ist nichts weiter als eine Konsequenz hiervon. Diese Tatsache versteckt Nietzsche. Dabei hängt das neue Sündenbewußtsein und die christliche Legitimation das Tötens ganz eng zusammen und muß immer in Verbindung mit der Christianisierung des Imperiums gesehen werden. Denn ein christianisiertes Imperium braucht ein in sein Gegenteil verwandeltes Christentum. Auf diese Weise entsteht die christliche Orthodoxie. Was dies für Absolutisierung von Gesetz und Autorität bedeeutet hat, kann man heute noch etwa an folgenden Behauptungen von Kardinal Höffner sehen:

“Das Schwertrecht des Staates ist eine eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Güter, besonders des menschlichen Lebens. Die Heiligkeit der Gottesordnung wird durch die Todesstrafe auch in diesem Äon als ‘mächtig‘ erwiesen.”20

“Das Recht des Staates, die Todesstrafe zu verhängen, besagt nicht, daß es dem Staat nicht gestattet sei, auf die Ausübung dieses Rechtes zu verzichten.” (Höffner, a.a.O. S. 231)

“... wobei zu bedenken ist, daß gefährliche Verbrecher nicht selten von ihren Komplizen durch Entführung und Geiselnahme befreit werden und ihr Unwesen fortsetzen.” (Höffner, a.a.O. S. 231)

“Daß es gerechte Kriege geben kann, ist einhellige Lehre der katholisch-theologischen Überlieferung.” (Höffner, a.a.O. S. 231)

Tatasächlich ist die Lehre von den gerechten Kriegen ein Produkt der Christianisierung des Imperiums und mit den Ursprüngen des Christentums völlig unvereinbar. Mit dem achten Kapitel des Johannesevangeliums läßt sie sich schon überhaupt nicht vereinbaren. Dort sind gerechte Kriege eine Erfindung des Vaters der Lüge. Ebensowenig hat die Behauptung Platz, daß die Todesstrafe “eine eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Guter, besonders des menschlichen Lebens” sei. Zu Beginn sagt das Evangelium “Am Anfang war das Wort… in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen”. Es sagt nicht: Am Anfang war das Schwertrecht des Staates.

Es ist sehr sichtbar, daß die Orthodoxie sich gegen ihre Ursprünge gerichtet und diese verurteilt hat. Mit der Verurteilung der Betonung des Lebens durch das Nein zum Töten hindurch, erscheint die Verurteilung der konkreten Körperlichkeit, das universale Sündenbewußtsein und das Töten als eindringliche Anerkennung des Lebens. Die Orthodoxie kehrt zu den “guten Gründen” für das Töten zurück. Es sind genau die gleichen Gründe, die Johannes als die “guten Gründe” für die Verurteilung Jesu zum Tode darstellt und die er als Gründe für den Mord enthüllt.

Es ist offensichtlich, daß diese Orthodoxie eine ganz radikale Uminterpretation ihrer Heiligen Schriften braucht. Dies schließt natürlich eine Uminterpretation des Evangeliums des Johannes ein. Aber es geht ganz spezifisch um die Uminterpretation der Szene des achten Kapitels über den Glauben und die Werke Abrahams. Das Imperium und seine Ideologie, die jetzt durch die christliche Orthodoxie formuliert wird, braucht gute Gründe zum Töten. Es kann aber den Text des Evangeliums nicht ändern, denn dieser ist Teil des bereits festgeschriebenen Kanons der Heiligen Schriften des Neuen Testaments. Daher muß sie seinen Sinn verändern.

Der Schrei des Subjekts

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