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Der politische Realismus und das Nein zum Töten

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Es gibt eine andere Szene des Evangeliums des Johannes, deren Analyse die Kritik des Gesetzes beleuchten kann, die, nach Johannes, Jesus macht. Sie erscheint im Evanglium nach den beiden zentralen Szenen des Kapitels 8 und 10 und sie bezieht sich auf den politischen Realismus der Hohenpriester, mit dem sie auf das Wunder der Auiferweckung des Lazarus reagieren:

“Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was er getan, glaubten an ihn. Einige aber von ihnen gingen zu den Pharisäern und erzählten ihnen, was Jesus getan hatte. Da riefen die Hohenpriester und Pharisäer den Hohen Rat zusammen und sagten: Was tun wir? Dieser Mensch wirkt so viele Zeichen. Wenn wir ihn so weitermachen lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und uns den heiligen Ort und das Volk wegnehmen. Einer aber von ihnen, Kajaphas, der in jenem Jahr Hoherpriester war, sagte zu ihnen: Ihr versteht nichts und überlegt nicht, daß es besser ist, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht. Das aber sagte er nicht von sich aus, sondern als Hoherpriester weissagte er, daß Jesus für das Volk sterben sollte, und nicht für das Volk allein, sondern auch um die zerstreuten Kinder (Söhne FJH) Gottes zur Einheit zusammenzuführen. Seit jenem Tag also waren sie entschlossen, ihn zu töten. Jesus ging nun nicht mehr öffentlich unter den Juden umher, sondern ging von dort weg in die Landschaft nahe der Wüste, in eine Stadt namens Ephraim. Dort blieb er mit seinen Jüngern.” (Joh 11, 45-54)

Zuvor hat Johannes schon mehrere Male gezeigt, daß die Lehren Jesu Wut und Empörung auslösten. Sie stoßen schlechterdings mit allem Gemeinsinn zusammen und der Gemeinsinn reagiert agressiv. Jetzt aber erscheint ein ganz anderes Argument. Johannes zeigt zuerst, daß die Hohenpriester und die Pharisäer Angst haben. Sie haben Angst vor den Römern, die durch diesen Jesus provoziert werden könnten: “Wenn wir ihn so weitermachen lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und uns den heiligen Ort und das Volk wegnehmen.” Sie sehen sich einer extremen Wahlsituation gegenüber: entweder töten sie Jesus oder die Römer töten sie, zusammen mit der gesamten jüdischen Nation und ihren heiligen Orten. Es handelt sich daher um ein Problem des “politischen Realismus” gegenüber den auf sie zukommenden Sachzwängen. Es ergibt sich für sie, daß es keinen anderen realistichen Ausweg aus dieser Situation gibt außer dem Tod Jesu: “daß es besser ist, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht.” Der Hohe Rat läßt sich von diesem Argument überzeugen: “Seit jenem Tag also waren sie entschlossen, ihn zu töten.”

Vom Gesichtspunkt des Gemeinsinns und des “politischen Realismus” her geurteilt, ist diese Entscheidung völlig rational. Die Hohenpriester haben “gute Gründe”, Jesus zu töten. Ich bin überzeugt, daß Johannes genau das sagen will. Die Entscheidung, Jesus zu töten, ist kein Produkt irgendeiner Wut gegen Jesus, obwohl solche Wut und Empörung existiert. Aber sie bestimmen nicht die Entscheidung. Sie ist auch kein Ergebnis irgendeines “blinden Hasses”. Jedenfalls erklärt der Haß nicht die Entscheidung. Die Entscheidung fällt als Ergebnis eines völlig normalen und rationalen politischen Urteils. Die Hohenpriester unterwerfen sich dem Gesetze eines Sachzwangs und handeln entsprechend. Johannes zeigt sie als Männer mit guten Gründen. Wenn später in der Passionsgeschichte diese Hohenpriester ihre Anklage gegen Jesus im Namen ihres Gesetzes erheben und für Jesus die Todesstrafe fordern, zeigen sie nur, daß ihr Kriterium des politischen Realismus mit dem Gesetz übereinstimmt, das denjenigen zum Tode verurteilt, der sich selbst zum Sohn Gottes macht.

Für Johannes ist gerade dieses Argument wichtig. Wäre Jesus einfach von Mördern umgebracht worden, die ihn aus Haß beseitigen wollen, verliert alle seine Theologie ihren Sinn. Ich bin auch überzeugt, daß er hier bewußt auf die Position antwortet, die in den synoptischen Evangelien zum Ausdruck kommt und die eher Haß und Wut als Grund für die Verurteilung Jesu durch die Hohenpriester ansehen. Johannes hingegen zeigt sie gerade als ehrenwerte, sogar mutige Männer mit guten Gründen und vernünftigem Urteil. Sie gehen dem Gesetz nach, dem Gesetz des vernünftigen Handelns, den Sachzwängen und den Normen der Gesetzlichkeit.

Das Argument des Johannes hingegen zielt auf etwas ganz anderes. Er will zeigen, daß die guten Gründe zum Töten keine guten Gründe sind. Er unterschiebt den Hohenpriestern daher keine schlechten Gründe, wie dies die synoptischen Evanglien tun. Er gesteht ihnen Gründe zu, die alle Welt für gute Gründe zum Töten hält. Worum es ihm zu zeigen geht ist, daß die guten Gründe zum Töten genau so schlechte Gründe sind wie die schlechten Gründe zum Töten: alle Gründe zum Töten sind schlechte Gründe. Alle guten Gründe zum Töten aber sind Gründe, die aus der Erfüllung von Gesetzen entspringen. Folglich ist Jesus Opfer der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Daher klagt Johannes nicht die Hohenpriester an. Er klagt das Gesetz an, er klagt den politischen Realismus an, er klagt den Gemeinsinn an. Er stellt dagegen seinen Realismus, der darin bestehen soll, nicht zu töten. Dieser Realismus des Johannes steht gegen den politischen Realismus immer dann, wenn der politische Realismus gute Gründe zum Töten sieht.

Der Schrei des Subjekts

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