Читать книгу Der Schrei des Subjekts - Franz Josef Hinkelammert - Страница 12
Die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird und die Verhärtung der Herzen
ОглавлениеIm Kontext der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, erscheint die Analyse dessen, der diese Sünde begeht. Dies ist der Bezugspunkt der Herzensverhärtung. Wenn das Gesetz erfüllt wird um des Gesetzes willen, bleibt die Wirklichkeit des Menschen außer Sicht. Man sieht ohne zu sehen. Es handelt sich um eine Erfahrung, die sich durch die gesamte christliche Botschaft hindurchzieht als eine Grunderfahrung Jesu in seinem Verhältnis zu seinen Ggenern. Das Gesetz, das um seiner selbst erfüllt wird, ist vollkommen tautolisch in bezug auf die Wirklichkeit. In diese Tautologie einzutreten, macht es unmöglich, noch menschliche Beziehungen zu haben. Alles wird dem Gesetz unterworfen, während sich das Gesetz in einen Despoten verwandelt, der niemandem unterworfen ist. Es wird zum Despoten, indem es als Gesetz behandelt wird, dessen Erfüllung gerecht macht.
Jetzt rechtfertigt das Gesetz und seine legalistische Erfüllung das Handeln. Dieses hat keine Verantwortung mehr außerhalb der streng legalistischen Gesetzeserfüllung. Das Gesetz ist legitim, weil es legal ist. Das Handeln dem Gesetz entsprechend bekommt sein gutes Gewissen ganz unabhängig von den Konsequenzen des Handelns. Das Gesetz tötet, aber derjenige, der in Erfüllung des Gesetzes tötet, hat kein Bewußtsein und kein Gewissen in bezug auf die Tatsache, daß er tötet. Er tötet, ohne Gewissensprobleme zu haben. Das Gesetz verwandelt sich in einen Schleier, und der Akt des Tötens erscheint als ein Akt der Gerechtigkeit. Es handelt sich um eine Gerechtigkeit, die sich nur von der Erfüllung des Gesetzes als Norm herleitet. Der Mörder, der in Erfüllung des Gesetzes mordet, erscheint zugleich als Lügner. Jetzt heißt die Ungerechtigkeit Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit heißt Ungerechtigkeit. Alles moralische Bewußtsein wird durch das Bewußtsein der Erfüllung des Gesetzes ausradiert. Die Tatsache, das Gesetz erfüllt zu haben, löscht die Stimme des moralischen Gewissens aus. Das Gewissen selbst dreht sich um. Es schlägt, wenn man in Betracht der Konsequenzen das Gesetz nicht erfüllt. Der Mensch ist jetzt für den Sabbat da und der Schuldner ist da, um das Wertgesetz zu erfüllen und die Schulden zu bezahlen. Über den Sabbat und das Wertgesetz hinaus gibt es nichts. Das Gewissen fragt nur noch nach der Erfüllung des Gesetzes; das menschliche Leben als Unterscheidungskriterium verschwindet. Derjenige, der das Gesetz erfüllt, geht über alle Wirklichkeit hinweg und kann sie zerstören, vorausgesetzt, er tut dies in Erfüllung des Gesetzes.
Dies ist unsere Wirklichkeit, nicht nur ein Problem von vor 2000 Jahren. So sagt Hayek: "Selbstverständlich ist die Gerechtigkeit nicht eine Frage der Ziele einer Handlung, sondern ihres Gehorsams gegenüber den Regeln, denen sie unterworfen ist."6 Es erscheint als selbstverständlich, das Gesetz so zu erfüllen, daß es erfüllt wird. Wer es tut, ist gerecht. Es scheint kein Fluch über dem Gesetz zu liegen, und daß das Gesetz tötet, geht das Gesetz nichts an. Es ist zum Despoten geworden. Diese Welt des Gesetzes ist einfach unsere Welt, und von dieser Welt zu sein, heißt, diese Gerechtigkeit zu verwirklichen. Das Gesetz ist dabei heute fast ausschließlich das Wertgesetz und Gesetze, wie das Gesetz des Sabbats vor 2000 Jahren, sind selbst dem Wertgesetz unterworfen. Wo aber auf solchen Gesetzen noch bestanden wird, gilt dies als Fundamentalismus. Das Wertgesetz ist jetzt selbst alles, es ist auch der Sabbat. Der Gewinn als Kriterium, sofern er innerhalb der Geltung des Wertgesetzes gemacht wird, legitimiert die Aktion, auch wenn diese die Menschheit und die Natur zerstört. Der Mord, der dabei geschieht, wird durch die Lüge verdeckt, nach der der Automatismus des Marktes das Allgemeininteresse verwirklicht. Dies ist die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird und selbst für das orthodoxe Christentum ist die Anklage dieser Sünde längst etwas völlig Fremdes geworden ist. Aber die Anklage dieser Sünde steht im Ursprung eben dieses Christentums.
Das, was hier in dem Handelnden geschieht und es ihm ermöglicht, alle Verantwortung für sein Tun von sich zu weisen, ist die Verhärtung des Herzens, die durch Argumente kaum durchdrungen werden kann. Die Tautologie des Gesetzeshandelns verwandelt das Herz – um mit Max Weber zu sprechen - in eine “stählernes Gehäuse”, das nicht mehr zugänglich ist. Die ausschließliche Verantwortung vor dem Gesetz verwandelt sich in nackte Verantwortungslosigkeit gegenüber der Wirklichkeit des Menschen. Für Jesus ist diese Erfahrung der Verhärtung der Herzen eine schockierende Erfahrung. Kein Argument dringt durch, denn das verhärtete Herz antwortet ausschließlich durch Rückgriff auf die Erfüllung des Gesetzes. Es fühlt sich gerecht, weil es das Gesetz erfüllt. Und eines dieser Zentren der Erfahrung Jesu ist gerade die Erfahrung der Verhärtung des Herzens durch das Wertgesetz. Dies ist der Gott Mammon, der Moloch der im Rücken des Wertgesetzes handelt und den lebenden Menschen als Subjekt erdrückt. Er verwandelt die Zahlung von Schulden in einen kontinuierlichen Mord und verwandelt das Haus Gottes in ein Kaufhaus, das schlimmer ist als eine Räuberhöhle. Aber es gibt kein Argument gegenüber dieser Tautologie des verhärteten Herzens, das sein Gewissen unterdrückt durch seine Bezugnahme auf die Erfüllung des Gesetzes.
Sie sehen ohne zu sehen. Sie sehen nicht, obwohl sie sehen. Ganz im Gegenteil verhärtet sich das verhärtete Hertz umso mehr, je mehr man es zu durchdringen versucht. Es ergibt sich eine Spirale des verhärteten Herzens. Je mehr es auf die Zerstörung des menschlichen Lebens hingewiesen wird, umso mehr verhärtet es sich durch den Verweis auf die Erfüllung des Gesetzes. Es reagiert dann agressiv und gewaltsam, um die Argumente zum Schweigen zu bringen und um sich als erfülltes Gesetz aufzuzwingen. Johannes analysiert diese Verhärtung im Kapitel 8 seines Evangeliums, das die Geschichte von der Heilung des blind Geborenen erzählt: die Blinden sehen und die Sehenden werden blind. Dies mündet in ein Spiel der Gegensätze ein:
“Hierauf sprach Jesus: Zu einem Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend und die Sehenden blind werden. Das hörten einige von den Pharisäern, die bei ihm standen, und sagten zu ihm: Sind etwa auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. Eure Sünde bleibt.” (Joh 9, 39-41)
Sie sehen, ohne zu sehen. Die Verhärtung als Sünde kann keine Vergebung haben, solange sie nicht sieht. Aber sie kann nicht sehen und will nicht sehen. Sie verschließt sich. Johannes zeigt die Sicht dieses Problems in der mosaischen Trdition, indem er den Popheten Jesaja zitiert:
“Er hat ihre Augen blind und ihr Herz hart gemacht, damit sie nicht mit ihren Augen sehen und mit ihren Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.” (Is 6, 9f, Joh 12, 40)
Einem anderen Evangelium nach nennt Jesus diesen Prozeß der Verhärtung des Herzens die Sünde wider den Heiligen Geist, aus der es keinen Ausweg gibt durch die Vergebung von Sünden.
Dies ist die Vorstellung von der Sünde im Singular nicht nur im Evangelium des Johannes, sondern in aller christlichen Botschaft, vor allem auch bei Paulus. Es ist die Sünde, die sich mit dem formalen Gesetz verbindet in dem Grade, in dem es nicht durch den lebenden und bedürftigen Menschen als Subjekt herausgefordert wird, indem dieser ihm gegenüber rebelliert. Das Gesetz ist für das Leben notwendig, aber wenn es nicht durch das Subjekt herausgefordert wird, führt es zum Tode. Es ist dann ein Gesetz zum Tode, auch wenn es ein von Gott gegebenes Gersetz ist. Dieser Tod ist impliziert in der Trägheitslogik des Gesetzes und nicht das Ergebnis seiner Verdrehung.
Das Gesetz, wenn es nicht durch den Menschen als Subjekt herausgefordert wird, verwandelt sich in eine große Dampfwalze, die alles Leben erdrückt, in eine Todesmaschine und schließlich in das Medium des kollektiven Selbstmords der Menschheit, wie dies etwa die Apokalypsis auffaßt.
Sich dieser Sünde zu unterwerfen ist das “von der Welt” sein im Sinne dessen, was Jesus im Jahannesevangelium sagt (vor allem in Joh 15, 18-27). Ihr gegenüber erfolgt die Forderung, in der Welt zu sein, ohne von der Welt zu sein. Es heißt, in der Welt zu leben ohne sich mitreißen zu lassen durch die Sünde, die in der Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Von hier aus ist verständlich, daß Jesus erlebt, daß die Welt, durch ihre Verhärtung des Herzens hindurch, diejenigen haßt, die in der Welt nicht von der Welt sein wollen. Es handelt sich um einen Begriff der Welt, der durchaus auch bei Paulus auftaucht, wenn auch nicht in dieser zentralen Bedeutung. Paulus behandelt es im ersten Korintherbrief als Spiel der Gegensätze zwischen der Welt und denen die nicht von der Welt sind. Da ist dann die Welt eine Torheit für die, die nicht von der Welt sind, und die, die nicht von der Welt sind, sind Toren für diejenigen, die von der Welt sind. Für Paulus ist dies “nicht von der Welt” sein die “Weisheit Gottes”. Johannes führt dies weiter. Die Rettung der Welt sieht er als Rettung von dieser Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Jetzt ist die Weisheit Gottes die andere Seite dieses lebenden Menschen als Subjekt, der rebelliert um das Gesetz im Namen des Lebens herauszufordern und um damit das menschliche Leben zu befreien.
Das, was Johannes hier als Botschaft der Befreiung sieht, spricht aus dem Munde des Johannes des Täufers aus. Dieser sagt nach dem Evangelium des Johannes über Jesus: “Siehe das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.” (Joh 1, 29)
Da die Sünde im Singular steht, handelt es sich um die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Es handelt sich nicht um die Sünden und daher nicht um Gesetzesverletzungen. Die Sünde der Welt ist die Sünde, die darin besteht, von der Welt zu sein. Es ist die Sünde, die als Fluch nicht nur über dem Gesetze liegt, sondern über der Welt liegt. Johannes spricht seine Sicherheit aus, daß Jesus diese Sünde von der Welt nehmen wird, daß er diesen Schleier von der Welt nimmt, der die Wirklichkeit verschwinden läßt hinter der Tautologie der Gesetzeserfüllung um des Gesetzes willen. Es ist die Hoffnung des Johannes, der glaubt, daß der Mord an Jesus die Augen öffnen wird derer, die blind waren. Dies hat nicht im geringsten eine sakrifizielle Bedeutung. Es ist nicht die Fruchtbarkeit eines Opfers, die Johannes erwarte, auch wenn er das Lamm ein Opferlamm ist. Es ist gerade bei Johannes das Opferlamm, dessen Tod enthüllt, was die Bosheit des Gesetzes ist, die nämlich darin besteht, Menschen zu opfern. Hier wird nicht in Jesus ein Mensch geopfert, damit dieses Opfer fruchtbar werde, sondern die Opferung dieses Menschen offenbart, daß jedes Menschenopfer, auch die Opferung Jesu, Mord ist und als Opfer keinerlei Fruchtbarkeit hat. Im sakrifiziellen Sinne ist jedes Opfer ein unsinniges Opfer Auch die Opferung Jesu ist unsinnig und hat nicht den geringsten Sinn. Dadurch aber zeigt sie, daß jedes Menschenopfer unsinnig ist und keine Fruchtbarkeit hat. Die Hoffnung des Johannes ist es, daß der Tod Jesu als unsinniger Tod die Bosheit des Gesetzes um des Gesetzes willen so definitiv zeigt, daß selbst die verhärteten Herzen durchdringbar werden, damit die Sünde von der Welt genommen werde, die darin besteht, von der Welt zu sein.
Das Johannesevangelium stellt sich daher die Frage: Warum und wie tötete die Welt, die von der Welt ist, Jesus? Und die andere Frage: Warum und wie nimmt dieser Tod die Sünde der Welt hinweg? Die Antwort setzt gerade voraus, daß dieser Tod keinen Sinn hat. Warum also? Weil die Welt, wenn sie von der Welt ist, den haßt, der nicht von der Welt ist. Aber warum nimmt dieser Tod die Sünde der Welt hinweg? Deshalb, weil er keinen Sinn hat. Hätte dieser Tod Sinn, wäre überhaupt der Tod nicht sinnlos. Dann könnte selbst die Sünde gerechtfertigt werden, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Dennoch geschieht etwas durch diesen Tod. Da er die Sinnlosigkeit des Tötens zeigt, macht er die Tatsache transparent, daß alle Menschenopfer – und die Sünde die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, ist ein Menschenopfer – ohne Sinn sind. Johannes geht nicht in die Falle, die darin besteht, für den Tod Jesu einen sakrifiziellen Sinn zu suchen, den er gar nicht hat. Aber durch diesen Tod geschieht etwas, indem die Bosheit des Gesetzes transparent wird. Aber das kann nur geschehen, weil dieser Tod keinen Sinn hat. Er kann eine Transparenz der Welt eröffnen, die die Sünde von der Welt hinwegnimmt. Dies ist die Hoffnung des Johannes. Er drückt sie durch ein Wort Jesu im Evangelium aus: “Wenn ihr werdet den Menschensohn erhöht haben, dann werdet ihr erkennen, daß ich bin…” (Joh 8, 27) Hier ist kein sakrifizieller Sinn ausgesprochen, ssondern eine Erkenntnis. Ihnen wird ein Licht aufgehen.
Dahinter steht die Überzeugung des Johannes, die er mit Paulus teilt, daß der Tod Jesu selbst die Sünde ist, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Er ist letztlich überhaupt das. In aller Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, ist diese Sünde als solche mit enthalten. Daher besteht Johannes darauf, daß Jesus verurteilt wurde nach dem Gesetz und daß das Urteil dem Gesetz entsprach. Das Gesetz wurde nicht mißbraucht, um Jesus töten zu können, sondern das Gesetz, als Gesetz das seiner selbst willen erfüllt wird, verurteilte Jesus zum Tode und zwar mit Recht. Jesus wurde zu recht zum Tode verurteilt, nicht aus irgendwelchen mörderischen Absichten, die das Gesetz zum Vorwand nahmen und es mißbrauchten. Dies ist nur bei Paulus und Johannes ganz ausdrücklich so ausgesagt. Bei Johannes sind die Hohen Priester politische Realisten und Gesetzesmenschen. Es ist das Gesetz, das den Tod Jesu fordert. Als dann die Hohen Priester von Pilatus in die Enge getrieben sind, klagen sie Jesus an und riskieren dabei ihr eigenes Leben. Sie sind wirklich Männer des Gesetzes, und insofern spricht Johannes sogar mit Hochachtung von ihnen. Sie sind bei Johannes nicht einfach die Mörder, wie sie es bei Mathäus zu sein scheinen. Sie fordern den Tod Jesu, weil dies das Gesetz verlangt und sie tuen es mit Überzeugung und mit Mut.
Aber das ist der Skandal. Es ist nicht der Skandal der Hohen Priester, sondern der Skandal des Gesetzes und der Skandal des Kreuzes. Es enthüllt sich etwas. Es enthüllt sich, daß das Gesetz in seiner Logik Jesus, der für Johannes das Wort ist, das das Leben ist, zu Recht zum Tode verurteilt. Schlimmer noch: es ist das von Gott gegebene Gesetz, das das tut. Daraus folgt dann, daß alles Gesetz, wenn es um seiner selbst willen erfüllt wird, diesen Skandal in sich trät, der dann einfach nur ausdrückt, was in seiner ganzen Bedeutung der Fluch ist, der über dem Gesetz liegt. Der Fluch des Gesetzes ist, Jesus als Wort, das das Leben ist, zu Recht zum Tode verurteilen zu müssen. Daher sind bei Johannes die Hohen Priester nicht mörderische, sondern tragische Figuren. In ihnen geschieht eine Tragödie, die aus diesem Skandal des Gesetzes erwächst.
Daher bricht im Tod Jesu für Johannes wie auch für Paulus das Gesetz an sich selbst. Für sie tötet es in Jesus das Leben selbst. Dadurch aber verliert es jede Legitimität, die es an sich durch seine Legalität zu haben beansprucht. Es hat sich enthüllt, was das Gesetz ist.
Dieser Schluß aber hängt völlig davon ab, daß die Verurteilung Jesu rechtens war. War sie nicht rechtens, enthüllt sie ja nicht, was das Gesetz ist. Der Fluch, der über dem Gesetz liegt, enthüllt sich nur, wenn Jesus durch das Gesetz rechtens verurteilt wurde. Daher stellen sowohl Paulus als auch Johannes dieses Urteil als rechtens dar. Dies ist für die ihre Position der Kritik des Gesetzes völlig zentral. Es sind nicht die Hohen Priester, aber auch nicht Pilatus, die Jesus verurteilen. Jesus wird verurteilt durch das Gesetz, das durch die Hohen Priester und durch Pilatus hindurch spricht. Es ist die Welt, die Jesus verurteilt. Die ihn verurteilen, sind von der Welt. Indem sie von der Welt sind, sprechen sie ein Gesetz aus, das um seiner selbst willen zu erfüllen ist. Daher enthüllt diese Verurteilung nicht etwa die Bosheit des Pilatus oder der Hohen Priester, sondern die Bosheit des Gesetzes und zwar die Bosheit allen Gesetzes und aller Gesetzlichkeit.
Bei Matthäus wird Jesus gekreuzigt, weil er leidenschaftlich gehaßt wird. In der Verurteilung Jesu wird das Gesetz mißbraucht. Bei Johannes gibt es dieser Art Haß überhaupt nicht. Die Gegner Jesu argumentieren mit dem Gesetz und ohne Leidenschaft. Sie sind ehrenwerte und sogar mutige Männer. Aber durch diese Ehrenhaftigkeit und durch diesen Mut hindurch verwirklicht sich die Bosheit des Gesetzes. Johannes sagt, daß die Welt haßt. Aber sie hat keinen leidenschaftlichen Haß. Ihr Haß ist Teil des Gesetzes selbst und seiner Funktionalisierung als Selbstzweck. Steiner sagt vom Johannesevangelium:
“Bezeichnenderweise empfand Bach, daß es sich der Vertonung widersetzt. Seiner Johannespassion fehlt ein sicheres Zentrum.”7
Tatsächlich, Bach konnte einen leidenschaftlichen Haß vertonen, aber nicht diesen Gesetz gewordenen, rationalisierten Haß ohne Leidenschaft, der der Haß der Welt ist.8 Ich wüßte auch nur eine Musik, die so etwas vertonen kann, nämlich die Musik von Schönbergs Sprechgesängen, wie sie gerade in seinem Sprechgesang über das Warschauer Ghetto vorliegt. Der Bachschen Musik entspricht dies nicht.
Offensichtlich kann es diesem Phänomen gegenüber nicht um die Vergebung der Sünde der Welt gehen. Daher besteht Johannes in seinem Evangelium darauf, daß der Ausweg aus dieser Sünde nicht die Vergebung sein kann. Die Vergebung von Sünden setzt voraus, daß ein Bewußtsein von der Sünde besteht. Hier aber besteht das ja gar nicht. Wo kein Bewußtsein des Vergehens ist, kann auch keine Vergebung sein. Aber Johannes verspricht denen, die diese Sünde begehen, nicht etwa ewige Höllenstrafen, die dem späteren Christentum so lieb sind. Er spricht daher davon, daß diese Sünde hinweggenommen wird. Sie verschwindet, indem die Konsequenz der Gesetzlichkeit transparent wird. Johannes ist sogar davon überzeugt, daß Jesus in seinem Tod die Sünde der Welt weggenommen hat, obwohl er während seines Lebens an ihr gescheitert ist. Die Tatsache, daß Jesus in Erfüllung des Gesetzes exekutiert wird, soll dann jenes Bewußtsein von einem notwendigen neuen Verhältnis zum Gesetz hervorbringen, das das Leben Jesu nicht gebracht hatte. Dies ist die Utopie des Johannes und wahrscheinlich auch die Utopie Jesu am Ende seines Lebens. Johannes müßte daher davon ausgehen, daß diese Utopie ihrem Wesen nach Wirklichkeit geworden ist, obwohl sie sich in der Geschichte erst im Prozeß ihrer Verwirklichung befindet.
Johannes hält an dieser seiner Utopie fest, obwohl er doch in seiner Zeit sehen konnte, daß diese Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, ihn und die christlichen Gemeinschaften in der römischen Welt weiterhin verfolgte. Er hält an der Utopie fest, obwohl doch sichtbar war, daß Jesus nicht diese Sünde von der Welt weggenommen hatte. Er konstruiert in diesem Sinne in den Abschiedsreden Jesu sein Bild von Jesus, das diesen als den Sieger durch seinen Tod hindurch zeigt. Ein Jesus, der die Welt besiegt hat, während doch sichtbar war, daß es die Welt war, die siegte. Sie siegte so sehr, daß wir heute in der Gefahr leben, daß die Menschheit und die Natur von dieser Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes – und zwar des Wertgesetzes - begangen wird, verschlungen werden.
Heute stehen wir doch viel eher nicht nur vor dem Scheitern Jesu als Person, sondern auch seiner Botschaft. Nur von der Anerkennung dieses Scheiterns werden wir heute noch das Leben Jesu zurückgewinnen können. Aber es geht jetzt darum, sein Leben zurückzugewinnen und nicht seinen Tod. Ein Sieg kann wohl kaum im Tod geschehen, auch wenn man noch so sehr an die Auferstehung jenseits des Todes glaubt. Auch die Auferstehung ist ein Aufruf, das Leben Jesu zurückzugewinnen in dem Sinne, daß nicht immer wieder der zum Subjekt werdende Mensch getötet wird. Da bleibt nicht eine beantwortete Frage, sondern eine offene. Es gibt nicht eine schon geschehene Erfüllung der Utopie des Johannes, sondern es gibt nur die Notwendigkeit, sie zu erfüllen. Das aber ist die Verantwortung der heutiger Menschen, die kein Text aus der Vergangenheit ersetzen kann.