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Die erste zentrale Szene: der Glaube des Abraham (Joh 8,31-59)
ОглавлениеIn dieser Szene, in der Jesus das Verhältnis zu Abraham in die Auseinandersetzung bringt, steht er gläubigen Sympathisanten gegenüber. Über sie sagt Johannes: “Als er dieses redete, glaubten viele an ihn. Jesus sagte nun zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren...” (Joh 8,30-31). Johannes stellt bewußt zu Beginn dieser Szene heraus, daß Jesus zu Gläubigen spricht. Aber Jesus spricht provozierend zu ihnen. Offensichtlich glaubt er ihrem Glauben nicht. Diese Spannung zwischen Jesus und denen, die an ihn glauben, tritt häufiger in allen Evangelien auf. Im Johannesevangelium wird sie bereits vorher vorgeführt, was ich als eine Vorbereitung für diese Szene empfinde, gleichzeitig aber auch als Vorbereitung für die Interpretation einer späteren Szene, in der Jesus beim Einzug in Jerusalem wiederum von Gläubigen als König gefeiert wird und denen er ebenso provozierend antwortet.
Diese vorbereitende Stelle findet sich am Ende der Geschichte über die Brotvermehrung und bezieht sich auf die Menge der Gläubigen, die gegessen hatten:
“Da nun Jesus merkte, daß sie kommen und ihn ergreifen wollten, um ihn zum König zu machen, floh er wieder auf den Berg, er allein.” (Joh 6,15)
Der Konflikt bricht darauf wieder aus und jetzt mit den Jüngern Jesu:
“Viele nun von seinen Jüngern, die das hörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie anhören? (Joh 6,60)
Von da an zogen sich viele von seinen Jüngern zurück und wanderten nicht mehr mit ihm umher.” (Joh 6,66)
Jesus wendet sich jetzt an den engen Kreis seiner Jünger:
“Das sagte Jesus zu den Zwölfen: Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens.” (Joh 6,67-68)
Jesus reagiert gereizt auf diejenigen, die an ihn glauben. Offenbar will er nicht, daß man an ihn glaubt. Was er will, ist, daß man den Glauben, den er hat, teilt. Es ist der Glaube des Jesus, um den es geht und nicht der Glaube an Jesus. Die Gläubigen hingegen, mit denen Jesus sich auseinandersetzt, glauben an Jesus als Ergebnis seiner Wunder, daher an Jesus als den Wunderheiler und den Mann der wunderbaren Brotvermehrung. Daher wollen sie ihn zum König, was sehr verständlich ist, denn was kann es besseres geben als einen König, der die Krankheiten heilt und mit sieben Broten tausende von Menschen ernährt. Jesus aber will, daß sie seinen Glauben teilen und nicht etwa an ihn glauben. Er sieht seine Wunder als Beweise dafür, daß dieser sein Glaube Kraft hat und wahrhaft göttlich ist.
Daher antwortet Simon Petrus auf die Frage, ob er nicht auch weggehen will, nicht durch Verweis auf die Wunder, sondern durch das: Du hast Worte ewigen Lebens. Das ist das Gleiche wie zu sagen: Wir teilen deinen Glauben.
Diese Art Konfrontation wiederholt sich ständig. Dasselbe im Verhältnis zu Judas, dem Jesus sagt: Habe ich euch die Zwölf, ausgewählt? Und von euch ist einer ein Teufel! (Joh 6,70) Dies ist keine Wahrsagerei, sondern wieder eine Provokation. Im Verhältnis zu Petrus entsteht ein gleich harter Zusammenstoß, von dem Markus berichtete. Dort sagt Jesus zu Petrus: Hinweg von mir, Satan! denn du denkst nicht an die Sache Gottes, sondern die der Menschen. (Mk 8,33) Auch hier provoziert Jesus, um eine Konversion zu erreichen. In keinem Fall handelt es sich um eine Verurteilung a priori.
Diese Spannung zwischen dem Glauben an Jesus und dem Aufruf Jesu, seinen Glauben zu teilen, tritt immer wieder hervor. So sagt auch Paulus: Christus hat mich ja nicht ausgesandt zu taufen, sondern die Heilsbotschaft zu verkünden, und zwar nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz Christi nicht zunichte gemacht werde. (1 Kor 1,17) Die Taufe kann ganz einfach den Glauben an Jesus ausdrücken und daher ist sie nicht das, worum es geht. Es geht darum, den Glauben des Jesus zu teilen und das heißt, die Heilsbotschaft zu glauben.9
Dennoch ist es gerade das Evangelium des Johannes, das diesen Konflikt besonders herausstellt. Daher spielen die Konflikte zwischen Jesus und denen, die an ihn glauben, eine besondere Rolle. Jesus selbst argumentiert häufig durch extreme Provokationen. Johannes zeigt diese ersten Gläubigen keineswegs als eine homogene Bewegung von Leuten, die sich definitiv zu seinem Glauben bekehrt haben. Jesus ist dort in einem ständigen Konflikt und in ständiger Auseinandersetzung mit der von ihm selbst iniziierten Bewegung. Daß man an ihn glaubt, bedeutet für diesen Jesus keineswegs, daß man seinen Glauben teilt. Es ist nicht mehr als eine Möglichkeit, sich zu diesem Glauben des Jesus zu konvertieren. Jesus aber sucht diese Konversion, sodaß es in einen ständigen Konflikt mit seinen Gläubigen kommt. Es handelt sich um einen Konflikt, der keineswegs weniger hart ist als der Konflikt mit seinen Gegnern.
Die Szene, die wir hier als erste zentrale Szene kommentieren (Joh 8, 1-59) entwickelt mit aüßerster Intensität diesen Konflikt zwischen Jesus und denen, die an ihn glauben. Jesus wirft ihnen einen Glaube ohne Konversion vor. Das ist eben der Glaube an Jesus als dem großen Wunderheiler und der zu nichts weiter verpflichtet als zu glauben, daß Jesus Wunder tuen kann. Aber um sein Jünger zu sein, fehlt dann eben das wichtigste: Daher fordert er sie heraus im Namen seiner Heilsbotschaft:
“Wenn ihr in meinem Worte bleibt, dann werdet ihr wirklich meine Jünger sein; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” (Joh 8, 31-32)
Die Wahrheit wird befreien. Hier geht es um den Glauben des Jesus. Seine Zuhörer aber fühlen sich provoziert. Sie sind frei. Freie Bürger einer Gesellschaft, die ihnen Freiheit gibt. Wer erklärt, daß sie sich befreien müssen, erklärt, sie seien Sklaven. Aber sie sind keine Sklaven, sondern freie Bürger. Sie erleiden vieles, und die Wunder Jesu kommen da gerade recht und sie können an ihn glauben. Aber wieso Befreiung?
“Sie antworteten ihm: Wir sind Nachkommen Abrahams und nie jemandes Sklaven gewesen. Wie kannst du behaupten: Ihr werdet frei werden?” (Joh 8,33)
“…nie jemandes Sklaven gewesen”. Das ist Ironie des Johannes. Die Geschichte Israels ist eine Geschichte der Sklaverei in Egypten und der Befreiung aus dieser Sklaverei. Sie sind Sklaven gewesen, und jetzt sagt Jesus ihnen aufs Neue, sie seien Sklaven und zwar Sklaven des Gesetzes. Sie aber betrachten sich als Freie durch das Gesetz. Auch die Freiheit durch Abstammung von Abraham ist eine Freiheit durch das Gesetz, denn das Gesetz erklärt, daß es die Abstammung ist, die die Freiheit gibt. Das Gesetz erklärt daher, wer von Abraham abstammt, keineswegs irgendeine biologische Tatsache. Daher betrachten sie sich als frei durch das Gesetz, wie ein römischer Burger sich als frei betrachtet auf Grund der gesetzlich normierten Bürgerschaft oder wie ein heutiger Bürger der okzidentalen Demokratie sich als frei betrachtet, weil das Gesetz ihm den Status der Freiheit gibt und er daher unter Gesetzen lebt, die demokratisch legitimiert sind und unter politischen Autoritäten, die demokratisch gewählt sind. Gegen diese Freiheit durch Gesetz richtet sich der Zorn Jesu. Er wirft ihnen sogar vor, ihn töten zu wollen, obwohl sie bisher zumindest nichts dergleichen gesagt haben. Aber Jesus geht davon aus, daß das Gesetz, das auf der einen Seite die Freiheit durch Gesetz erklärt, mit innerer Logik zum Grund dafür werden wird, ihn zu töten, der darauf besteht, daß diese Freiheit Unfreiheit ist.
“Jesus erwiderte ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der Sünde tut, ist ein Sklave. Der Sklave aber bleibt nicht für immer im Hause. Der Sohn bleibt für immer. Wenn also der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein. Ich weiß, daß ihr Nachkommen Abrahams seid. Aber ihr sucht mich zu töten, weil mein Wort in euch nicht Eingang gewinnt.” (Joh 8, 34-37)
Aber jetzt bestehen sie auf ihrer Freiheit durch Gesetz und wiederholen:
“Sie antworteten und sprachen zu ihm: Unser Vater ist Abraham.” (Joh 8,39)
Jesus aber wird wieder zornig:
“Jesus sagt zu ihnen: Wenn ihr Kinder Abrahams wäret, würdet ihr die Werke Abrahams tun. Nun aber sucht ihr mich zu töten, der ich euch die Wahrheit verkündet habe, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. Ihr tut die Werke eures Vaters.” (Joh, 8, 39-41)
Von Abraham abzustammen, macht nicht frei. Auch Abraham stammt von Abraham ab und ist frei durch das Gesetz. Aber Abraham befreite sich. Um frei zu sein mit Abraham muß man die Werke Abrahams tun. Die Abstammung ist zweitrangig, letztlich nicht einmal bedeutend. Durch seine Werke befreite sich Abraham, nicht durch seine Abstammung. Indem man sich wie Abraham durch die Werke Abrahams befreit, wird man zum Sohn Abrahams. Von Abraham muß man seine Befreiung erben, und man erbt sie nicht durch Abstammung gemäß dem Gesetz.
Aber was sind die Werke Abrahams, durch die Abraham sich befreit? Was ist demgemäß die Freiheit Abrahams, die man erben soll und die man nur dadurch erbt, daß man sich wie Abraham befreit?
Die Antwort Jesu ist überraschend: “Ich weiß, das ihr Nachkommen Abrahams seid. Aber ihr sucht mich zu töten...” (Joh 8,37) Er wiederholt dies danach: “Wenn ihr Kinder Abrahams wäret, würdet ihr die Werke Abrahams tun. Nun aber sucht ihr mich zu töten.... Das hat Abraham nicht getan.” (Joh 8,39-40)
Hieraus folgt, was die Werke Abrahams sind, durch die Abraham sich befreit. Es handelt sich um ein Nein zum Töten und darum, nicht zum Töten bereit zu sein. Dahin gekommen zu sein, erscheint hier als Akt der Befreiung. Sohn oder Kind Abrahams zu sein, bedeutet, diese Befreiung selbst zu vollziehen. Was man von Abraham erben soll, ist diese Befreiung und nicht die Freiheit durch Gesetz.
Der Schlüssel für diese Befreiung ist: ihr wollt mich töten, Abraham hat nicht getötet. Es ist offensichtlich, daß Jesus hier auf das berühmte “Opfer” oder die “Bindung” Isaaks anspielt. Jesus vertritt offensichtlich eine Interpretation dieses Mythos, die sehr verschieden ist von der herrschenden Interpretation zu seiner Zeit.
Man kann den Mythos kurz zusammenfassen: gemäß dem Gesetz der Zeit mußte der Vater seinen erstgeborenen Sohn Gott zum Opfer bringen. Der Mythos erzählt, daß Gott von Abraham die Opferung seines Sohnes Isaak forderte. Gehorsam, stieg Abraham mit seinem Sohn Isaak auf den Berg Moriah, um ihn zu opfern. Er band Isaak auf einen Altar und stellte sich vor ihn hin, um ihn zu töten. In diesem Moment aber ändert er alle seine Absichten. Er tötet Isaak nicht, sondern befreit ihn. Zusammen mit ihm steigt er vom Berg wieder herunter, aber er kehrt nicht an den Ort zurück, wo er bis dahin gelebt hatte, sondern läßt sich in Bersheba nieder.
Dies ist der Mythos. Das Problem liegt darin zu erklären, warum Abraham seinen Sohn Isaak nicht tötet. Die herrschende Interpretation in der Zeit Jesu ist, daß Abraham bereit war, seinen Sohn als Opfer zu töten. Gott aber griff ein, da für ihn die Bereitschaft, seinen Sohn zu töten, genügender Beweis war für seinen Glauben.10 Die gute Absicht Abrahams, seinen Sohn zu töten, genügte, und Gott ließ davon ab, auch die wirkliche Durchführung zu verlangen. Diese Interpretation wurde von der christlichen Orthodoxie aufgenommen.
In der jüdischen Tradition gibt es zumindest seit der Zeit der Makabäer eine Interpretation, die sich diesem Sinne annähert, obwohl sie normalerweise von der “Bindung” Isaaks spricht. An einigen Stellen des christlichen Neuen Testaments erscheint diese selbe Interpretation, nämlich im Jokobusbrief und im Hebräerbrief. Die spätere christliche Orthodoxie radikalisiert dies zum “Opfer”, in dem Abraham seinen Sohn Isaak opfert. Während die jüdische Tradition die Figur des “gebundenen” Sohnes Isaak unterstreicht, betont die christliche die des Vaters Abrahams als dem, der das Opfer bringt.
Jesus hingegen scheint diesen Mythos auf eine völlig andere Art zu interpretieren und gewinnt damit das zurück, was wohl der ursprüngliche Sinn des Textes war. Hiernach befreite sich Abraham gegenüber dem Gesetz, das von ihm die Opferung seines Sohnes Isaak forderte. Abraham entdeckte, daß dieses Opfer ein Mord ist und daß nicht Gott es sist, der es verlangt. Angesichts dieser Entdeckung bekehrt er sich und befreit sich. Gott ist ein Gott des Lebens und ein Gesetz, das den Tod fordert, kann nicht Gottes Wille ausdrücken, denn das Gesetz Gottes ist ein Gesetz das zum Leben führt. Daher tötet Abraham nicht, da er entdeckt, daß seine Freiheit in der Bejahung des Lebens besteht, die durch ein Nein zum Töten vermittelt ist. Daher ist dies sein Glaube: nicht bereit sein zu töten, weder seinen Sohn noch irgend jemand anderen. Wenn Gott das Opfer seines Sohnes verlangt, so folgt daraus, daß er es verlangt, daß er nicht der wahre Gott ist. Abraham, der durch Gesetz bereits frei war, befreit sich von der Sklaverei des Gesetzes, das seine Freiheit erklärt, indem er sich frei macht dem Gesetz gegenüber, wobei die Wurzel dieser Freiheit das Nein zum Töten ist.
Zieht man dies in Betracht, so kann man verstehen, was Jesus sagte: “Nun aber sucht ihr mich zu töten.... Das hat Abraham nicht getan.” (Joh 8,39-40) Daher erklärt er, daß sie weder frei sind noch Söhne Abrahams.
Sieht man die Abrahamssituation in dieser Weise, ergibt sich, daß Jesus sich selbst mit Isaak identifiziert, dem Sohn Abrahams. Diejenigen, die auf dem Gesetz und der Freiheit duch das Gesetz bestehen, sieht er als Abraham, der Isaak gebunden hat und ihm gegenübersteht. Daher ruft er dazu auf, sich zu befreien, das Wort der Wahrheit zu hören. Aber er sieht keine Bereitschaft zu dieser Bekehrung und Befreiung: ihr wollt mich töten, Abraham aber hat nicht getötet. Sie sind Nachkommen und daher Söhne Abrahams, die sich jetzt in der Situation Abrahams befinden, aber nicht bereit sind, die Werke Abrahams zu tun.
Dies ist die Situation aus der heraus Jesus spricht. Diese Botschaft verweigert jedes Menschenopfer, denn Menschenopfer ist Mord. Das ist für Johannes ebenfalls eine Botschaft in Beziehung auf den Tod Jesu. Der Gott-Vater Jesu ist der Gott jenes Abraham, der sich dem Gesetz gegenüber befreite. Dieser Gott-Vater kann ebenfalls nicht den Tod des Jesus als Opfer verlangt haben, denn es ist der Gott der Befreiung Abrahams, der sich gegenüber einem Gestz befreite, das von ihm den Tod seines Sohnes Isaak als Opfer verlangte. So wie Abraham sich nicht in den Mörder seiners Sohnes verwandelte, so kann auch Gott dieses nicht tun.
Hier wird ein Mordvorwurf erhoben, der alles übliche übersteigt. Natürlich haben diese Gläubigen, mit denen Jesus zusammenstößt, zu Beginn nicht die geringste Absicht ihn zu töten. Die ganze Szene ist nicht erklärbar, wenn man diesen Gläubigen die Absicht unterstellt, Jesus töten zu wollen. Dennoch wirft Jesus ihnen vor, ihn töten zu wollen, ein Vorwurf, der sich im Verlaufe der Auseinandersetzung immer mehr zuspitzt. Er wirft ihnen eine Haltung vor, die zum Mord führt ganz unabhängig davob, ob man die Absicht hat zu morden: die Freiheit durch Gesetz zu verwirklichen, ist eine Freiheit, die in sich mörderisch ist. In der Konsequenz müssen sie Jesus töten wollen, der sie auffordert, sich zu befreien. Indem sie aufgefordert werden, sich zu befreien, wird der mörderische Charakter einer Freiheit durch Gesetz offenbar. Gerade deshalb, weil sie ihre Freiheit auf die Freiheit durch Gesetz aufbauen, müssen sie diese ihre Freiheit durch den Mord durchsetzen. Der Mord ist das vorhersehbare Ergebnis eben dieser Freiheit, denn nur die Befreiung befreit von dem Zwang zum Mord der von der Freiheit durch Gesetz ausgeht. Den Glauben Jesu zu teilen macht frei, aber der Glaube an Jesus führt zum Mord.
Daher sagt Jesus zu diesen Gläubigen, die seine Heilsbotschaft nicht annehmen wollen, daß sie nicht Söhne Abrahams sind, sondern einen andern Vater haben:
“Sie sagten zu ihm: Wir sind nicht aus der Hurerei geboren, wir haben nur einen Vater, Gott. Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben. Denn ich bin von Gott ausgegangen und gekommen. Denn ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern jener hat mich gesandt. Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt.” (Joh 8, 41-43)
Neben Abraham als Vater erscheint jetzt Gott als Vater. Jesus aber antwortet: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben. Der Gott, der ihr Vater ist, ist derjenige Gott, der Abraham befahl, seinen eigenen Sohn zu töten und zu opfern. Dieser Gott aber ist nicht Gott, sondern Jesus nennt ihn jetzt ganz anders:
“Ihr habt den Teufel zum Vater und wollt die Gelüste eueres Vaters tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und hatte in der Wahrheit keinen Stand, weil Wahrheit in ihm nicht ist. Wenn er die Lüge redet, dann redet er aus seinem Eigenen, weil er ein Lügner ist und der Vater der Lüge.” (Joh 8,44)
Ob man Abraham oder Gott zum Vater hat, das erweist sich. Ebenso erweist es sich, ob man den Teufel zum Vater hat. Es gibt kein Gesetz, das das festlegen könnte und es ist immer in Frage gestellt. Man hat den Teufel zum Vater, wenn man auf den Mord setzt, und wenn man auf den Mord setzt, wird man zum Lügner, der nicht die Wahrheit sagt. Man wird zum Lügner, weil man jetzt den Mord als die Wahrheit, als den Weg zum Leben und als Weg zur Freiheit darstellen muß. Schon die Behauptung, durch Gesetz frei zu sein, ist eine Lüge, die einen Mord versteckt. Hinter diesem Denken Jesu steht die Vorstellung von der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Indem diese Sünde begangen wird, erscheint die Lüge, die den Mord im namen der Erfüllung des Gesetzes als Dienst an der Gerechtigkeit und an der Freiheit ausgibt. Im Rücken des Gesetzes erscheint nicht nur die Sünde, der Mord und die Lüge, sondern auch ihr Vater, nämlich Satan, der Teufel. Indem sie in eine Logik eintreten, die zum Mord führt, erweist sich, daß dieser Teufel ihr Vater ist und daher Gott nicht ihr Vater sein kann. Aber wenn Gott nicht ihr Vater ist, so ist es Abraham auch nicht.
Jesus kennt letztlich nur eine Sünde: den Mord. Mord schließt in der jüdischen Tradition die Ungerechtigkeit und die Ausbeutung ein. Der Ungerecchte mordet durch seine Ungerechtigkeit. Die Lüge ist der Schleier, der den Mord verdeckt, sodaß der Mord als etwas ganz anderes auftritt. Daher heißt bei Jesus das in-der-Wahrheit-sein die Bejahung des Lebens mittels des Nein zum Töten. Man ist nicht in der Wahrheit etwa, weil man nur mit guten Günden tötet, aber auch nicht dadurch, daß man von Abraham abstammt oder sich taufen läßt. In der Wahrheit sein, geht durch ein Nein zum Töten hindurch, auch gegenüber dem Mord, der in Erfüllung des Gesetzes geschieht. Es gibt keine guten Gründe zum Töten. Alle Gründe sind schlechte Gründe, wenn sie das Töten legitimieren. Gute Gründe zum Töten sind immer Lüge und sie kommen vom Vater der Lüge.
Diese Interpretation der Lüge finden wir auch bei Paulus:
“Gottes Zorn enthült sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten.” (Röm 1,18)11
Dieses Niederhalten hat die Bedeutung von Gefangenhalten. Die Ungerechtigkeit hält die Wahrheit in einem Gefängnis. Die Ungerechtigkeit behauptet, die wahre Gerechtigkeit zu sein. In moderner Sprache ist dies Ideologienkritik.
Auf die Rede Jesu hin, der gemäß es sich aus der Haltung gegenüber dem Mord erweist, ob man Gott oder den Teufel zum Vater hat, kommt eine ebenso radikale Antwort von seiten seiner Zuhörer, die doch am Anfang Jesu Gläubige waren: “Sagen wir nicht mit Recht, daß... du von einem Dämon besessen bist?” (Joh 8,47) und: “”Jetzt wissen wir, daß du von einem Dämon besessen bist.” (Joh 8,52) Und Jesus antwortet: “Ich bin von keinem Dämon besessen, sondern ich ehre meinen Vater, aber ihr entehrt mich.” (Joh 8,49)
Hatte Jesus gesagt, daß die Haltung zum Mord erweist, ob man Gott oder den Teufel zum Vater hat, so nehmen seine Zuhörer dies jetzt auf, aber drehen es um. Jetzt hat derjenige, der dies sagt, nämlich Jesus, den Teufel im Leibe. Es ist jetzt aus der Sicht seiner Zuhörer, die zu Gegnern geworden sind, teuflisch, das Leben durch das Nein zum Töten zu vermitteln. Hier ist klar: Jesus ist Luzifer und Luzifer ist der Teufel.
Es tritt ein Spiel von sich korrespondierenden Gegensätzen ein. Jesus sagt zu ihnen, sie hätten den Teufel zum Vater. Sie aber antworten, Jesus habe einen Dämon, wobei Dämon hier bereits die Bedeutung von Teufel hat. Vom Standpunkt Jesu aus, der die Bereitschaft zum Töten ins Auge fast, haben sie den Teufel zum Vater. Aber von ihrem Standpunkt aus, der vom Gesetz und der Freiheit durch Gesetz aus urteilt, hat Jesus einen Teufel. Ein ähnliches Spiel der Gegensätze hatten wir vorher bereits gesehen im Fall der Tempelreinigung, als Jesus seine Gegner der Blasphemie anklagt. Sie antworten dadurch, daß sie ihn der Blasphemie anklagen. Der neuralgische Punkt, von dem aus diese gegensätzlichen Anklagen verständlich werden, ist der Standpunkt des Gesetzes und Gerechtigkeit durch die Erfüllung des Gesetzes. Jesus urteilt jeweils von einer Befreiung aus, die das lebende Subjekt dem Gesetz gegenüber vertritt, während die andere Seite von der formalen Erfüllung des Gesetzes her urteilt, der gegenüber die Subjektivität dem Gesetz gegenüber Blasphemie und Teufelswerk ist. Und Johannes macht sehr eindeutig klar, daß für ihn der Glaube darin besteht, sich als lebendiges Subjekt dem Gesetz gegenüber zu befreien und daß gerade dies der Glaube des Jesus ist, den man im Glauben teilt. Dieser Glaube aber ist ein Weg, nicht ein für-wahr-halten.
Die ganze Auseinandersetzung endet:
“Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Er aber verbarg sich und ging aus dem Tempel.” (Joh 8,59)
In der Sicht von Johannes handelt es sich um einen Prozeß der Verhärtung der Herzen, die in einer Spirale vor sich geht. Diejenigen, mit denen Jesus zusammenstößt, sind Leute, “die zum Glauben an ihn gekommen waren.” (Joh 8,31) Sie haben keine Absicht, Jesus zu töten. Jesus konfrontiert sie damit, was es heißt, Söhne Abrahams zu sein. Jesus tut dies auf provozierende Weise, worauf sie sich zunehmend verschließen. Sie verhärten ihre Herzen. Am Schluß wollen sie Jesus tatsächlich töten.
Jesus hat in diesem Prozeß einen durchaus aktiven Teil. Er enthüllt den andern vor sich selbst und vor allen andern. Bekehrt der andere sich nicht, so wendet er sich gegen ihn. Man kann dann versten, warum Johannes in einem etwas späteren durchaus ähnlichen Zusammenhang Isaias zitiert:
“Er hat ihre Augen blind und ihr Herz hart gemacht, dami sie nicht mit ihren Augen sehen und mit ihren Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.” (Joh 10,40)