Читать книгу Der Schrei des Subjekts - Franz Josef Hinkelammert - Страница 6
Die Sünde die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird
ОглавлениеWährend die synoptischen Evangelien eher den Charakter von Geschichtschroniken zum Leben Jesu haben, ist das Evangelium des Johannes anders. Es ist durch ein zentrales Argument geordnet, um das herum die ganze Geschichte Jesu entwickelt wird. Das Evangelium des Johannes kann von einem zentralen Szenarium aus verstanden werden, in bezug auf das alles vorherige Einführung und alles danach Schlußfolgerung ist.
Dieses zentrale Szenarium scheint mir durch zwei Kapital des Evangeliums gegeben zu sein. Das erste ist das Kapitel 8, in dem Jesus mit Leuten, die zum Glauben an ihn gekommen sind, über die Befreiung diskutiert, die Jesus gegen die Freiheit durch Gesetz stellt. Jesus tut dies, indem er die Abstammung von Abraham diskutiert Gesetz der biologischen Abstammung oder dadurch, daß man die und die Frage stellt, ob man von Abraham abstammt durch das Werke Abrahams tut. In diesem Kapitel ergibt sich der wohl schärfste Zusammenstoß mit seinen Zuhörern unter allen von Johannes berichteten Szenen, dem Jesus sich nur durch Flucht entziehen kann. Das zweite zentrale Kapitel ist das Kapitel 10, in dem Jesus die Göttlichkeit des Menschen diskutiert ausgehend von dem Ausruf: Ihr alle seid Götter! Auch diese Szene mündet in einen Zusammenstoß mit seinen Zuhörern ein. Innerhalb des Evangeliums erklärt dieses zentrale Szenarium den tragischen Ausgang des Lebens Jesu. Dieser Ausgang wird in den Kapiteln 18,12 bis 19,22 dargestellt. Es handelt sich um den Prozeß gegen Jesus, den der römische Staathalter Pontius Pilatus durchführt. Er beginnt mit der Verhaftung Jesu, dem der Versuch des Hohen Priesters folgt, selbst Jesus den Prozeß zu machen, worauf dann Pilatus den Prozeß an sich zieht bis zur Verurteilung Jesu und seiner Hinrichtung am Kreuz. Dieser Teil ist ganz besonders gezeichnet durch eine Vielzahl von Verhören und Anklagen, durch die hindurch Johannes die Gründe für den Prozeß und die Verurteilung aufzeigt. Diese Gründe werden behandelt in der Beziehung zwischen Pilatus, den Hohenpriestern und Jesus. Den Verhören folgen Zusammenstöße zwischen den Hohenpriestern und Pilatus, bis schließlich Pilatus das Urteil spricht und Jesus kreuzigen läßt.
Das zentrale Szenarium - die Kapitel acht bis zehn – stellen den Konflikt Jesu innerhalb seines Volkes dar und bringen die Gründe vor, die zu seinem Tod führen. Diese Konflikte und Gründe erscheinen aufs Neue in den Szenen, in die das Evangelium ausmündet und die die Passion erzählen. Die übrigen Szenen des Evangeliums beziehen sich auf diesen zentralen Teil. Häufig scheinen sie so etwas wie Fußnoten zu sein, die uns zu diesem zentralen Szenarium und durch es hindurch zur Passionsgeschichte hinführen. So tauchen in der Passionsgeschichte einige Schlüsselworte nur kurz auf, aber in ihrer Kürze sind sie nur verstehbar, weil sie auf vorhergegangene Szenen anspielen. Dies betrifft, z.B. Schlüsselworte wie das Wort Welt oder Sohn Gottes. Ebenso ergeben sich in der Passionsgeschichte Schlüsselsituationen, die durch vorhergegangene Situationen vorbereitet worden sind. Dies gilt etwa für den letzten Einzug in Jerusalem, in dem die Menge Jesus als König feiert (Joh 12, 12-19) als Vorbereitung für das erste Verhör des Pilatus und schließlich die blutige Königsparadie von seiten der Soldaten und Pilatus (Joh 19, 1-5); oder für die Heilung des Blinden (Joh 9), die ganz eng verknüpft ist mit dem Verhör durch den Hohenpriester (Joh 10, 25-39); oder die Szene in Joh 11,45-53 für die Entscheidung der Hohenpriester, den Tod Jesu zu suchen, die zusammen gesehen muß mit der Diskussion über die Söhne Abrahams. So ist auch der Hintergrund der Anklage der Blasphemie (Joh 19, 7) nur verständlich, wenn man die Diskussion in Joh, 10, 25-39 in Betracht zieht, in der Jesus sich als Sohn Gossttes bezeichnet, dies aber in einem Sinne tut, in dem alle Menschen, einschließlich seiner Ankläger, Söhne Gottes sind.
Aber auch die Passionsgeschichte dreht sich um ein Zentrum, ohne das ihre Bedeutung nicht verstehbar ist. Es handelt sich um die Anklagen gegen Jesus. Die erste Anklage ist die des Pilatus, wobei diese Anklage nur indirekt ausgedrückt wird und mit einer offensichtlichen Lüge des Pilatus zusammengeht:
“Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Und nach diesen Worten ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Es besteht aber bei euch der Brauch, daß ich euch am Osterfest einen freigebe. Wollt ihr nun, daß ich euch den König der Juden freigebe?”(Joh 18,38-39)
Die andere Anklage sprechen die Hohenpriester aus. Sie ist eine offene und direkte Anklage im Namen des Gesetzes:
“Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz. Und nach diesem Gesetz muß er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat. Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr.” (Joh 19, 7-8)
Pilatus klagt Jesus an, sich zum König der Juden zu machen. Aber er sagt dies nur auf indirekte Art, nie spricht er die Anklage offen aus. Die Hohenpriester hingegen klagen Jesus offen und direkt an, sich zum Sohn Gottes zu machen. Pilatus klagt im Namen des Imperiums und seiner Macht an, die Hohenpriester hingegen klagen im Namen des Gesetzes. Die Anklage des Pilatus ist heuchlerisch. Nachdem er seinen berühmten Ausspruch getan hat “Was ist Wahrheit?”, geht er zu einer offensichtlichen Lüge über: “Ich finde keine Schuld an ihm.” Daß dies eine Lüge ist, zeigt der folgende Satz, in dem er Jesus zur Befreiung anbietet, aber ihn nicht mit seinem Namen anspricht, sondern als “König der Juden”. Dies bedeutet im Munde des höchsten Richters eine Anklage gegen Jesus, die die Anklage des Hochverrats ist und das Todesurteil beinhaltet. Gerade hierin entlarvt sich die Versicherung, keine Schuld an ihm zu finden, als Lüge. Sie wird jetzt zur Drohung gegenüber den Hohen Priester, die, würden sie die Freigabe des Jesus verlangen, selbst Hochverrat begehen würden. Deshalb akzeptiert Pilatus auch später nicht die Interpretation, der gemäß Jesus vorgab, König der Juden zu sein (Joh 19, 21-22). Pilatus besteht darauf, daß Jesus sich zum König der Juden gemacht hat und als solcher zum Tode verurteilt wurde. Damit klagt er alle an, die Jesus unterstützen oder seine Freigabe fordern, obwohl er schließlich nur Jesus exekutiert. Er bedroht folglich durch diese Form seiner Anklage die Hohenpriester selbst. Die Hohenpriester wissen dies.
Die Hohenpriester hingegen klagen Jesus im Namen des Gesetzes an, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat, was die Anklage der Blasphemie impliziert. Aber sie klagen offen an, ohne ihr Anklage zu verstecken. Aber auch ihre Anklage versteckt etwas, das nicht ausgesprochen, aber von Pilatus verstanden wird. Auch die Hohenpriester drohen, wenn sie es auch aus einer abhängigen und schwachen Situation tuen, in der sie diese ihre Drohung niemals verwirklichen können. Sie klagen Jesus im Namen des Gesetzes an, dem gemäß er zu sterben hat, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat. Was Pilatus weiß und versteht, ist was auch die Hohenpriester wissen, ohne es zu sagen: Auch der Cesar-Kaiser, in dessen Namen Pilatus Statthalter ist und von dem er alle seine Macht ableitet, trägt den Titel Sohn Gottes. Selbst wenn sie es nicht wollten, klagen die Hohenpriester im Namen des Gesetzes nicht nur Jesus an, sondern auch den Kaiser. Im Namen des Gesetzes ist nicht nur Jesus des Todes, sondern der Kaiser auch. Pilatus ist sich darüber offensichtlich klar, was der folgende Text auch ausspricht: “Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr”.
Die Bedeutung dieser beiden Anklagen entscheidet über die Bedeutung der gesamten Passionsgeschichte, damit aber auch über die Bedeutung des gesamten Evangeliums des Johannes. Diese Bedeutung kann man daher nur vom Kontext des gesamten Evangeliums her erschließen.
Diese Anklagen weisen auf den zentralen Charakter der Szenen des Kapitels acht und zehn hin. Dort erscheinen mit aller Kraft diese Konflikte über das, was es bedeutet “in der Welt” zu sein und “Sohn Gottes” zu sein. Diese Konflikte münden in die Passion ein, was eben die Passionsgeschichte zeigt. Weder diese Passisonsgeschichte, noch der Prolog des Evangeliums noch die Abschiedsreden sind verständlich, wenn man sie nicht von diesen zentralen Kapiteln her interpretiert. Daher werden wir einen großen Teil der folgenden Analysen diesen beiden Kapiteln zuwenden.
Der Aufbau des Johaannesevangeliums ist dem klassischen Drama ähnlich, in dem der III. Akt den zentralen Konflikt des Dramas entwickelt und der V. Akt den tragischen Ausgang zeigt, soweit es sich um eine Tragödie handelt. Das gesamte Johannesevangelium ist wie ein großes Drama geschrieben, das tatsächlich das Drama unserer Welt entwickelt. In diesem Sinne, können die Kapitel 8-10 als der III. Akt und die Passionsgeschichte als der V. Akt verstanden werden.
Um in diese Analyse eintreten zu können, möchte ich zuerst einige zentrale Ausdrücke in der Argumentation des Johannes untersuchen. Ich werde mit der Analyse des Ausdrucks “Welt” beginnen.