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Das Wertgesetz und die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird

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In den synoptischen Evangelien nimmt Jesus ebenfalls eine solche Position ein gegenüber dem Sabbat. Die gleiche Position nimmt er ebenfalls ein gegenüber dem Wertgesetz, dem Markt und dem Geld. Er tut dies insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Schulden und der Schuldenzahlung. Schulden bezahlen zu müssen, ist Gesetz. Es ist ein Gesetz, das sich direkt aus dem Wertgesetz ableitet und daher ein Ergebnis der Unterwerfung des Menschen unter das Wertgesetz ist. Wo das Wertgesetz auftaucht, taucht auch der Kredit auf und mit diesem die Unvermeidlichkeit der Zahlung von Schulden. Sobald daher das Wertgesetz sich in legaler Form aufzwingt, taucht auch die legale Verpflichtung auf, Schulden zu bezahlen. Die Kritik Jesu des Gesetzes der Schuldenzahlung ist analog seiner Kritik des Gesetzes des Sabbats: der Mensch ist nicht für die Warenbeziehungen da, sondern die Warenbeziehungen sind für den Menschen da. Er kommt daher zum Ergebnis, daß der Mensch nicht leben kann, wenn nicht der Schuldennachlaß Teil des Lebens ist. Auch hier handelt es sich nicht um die Abschaffung der Waren- oder der Kreditbeziehungen, sondern um ihre Unterwerfung unter die Lebensnotwendigkeit des Menschen als dem Subjekt des menschlichen Lebens.

Das Johannesevangelium erwähnt diese Kritik der Schuldenzahlung überhaupt nicht. Es stellt eine ganz andere Seite des Kritik Jesu am Wertgesetz heraus. Es handelt sich um die Ersetzung Gottes durch die Warenbeziehungen, um die Gottwerdung des Geldes. Diese Kritik stellt Jesus heraus anläßlich seines zweiten Auftritts in der Öffentlichkeit bei Gelegenheit seiner ersten Reise nach Jerusalem. Es handelt sich um den einzigen Auftritt, bei dem Jesus selbst gewaltsam wird. Die Szene ist als Reinigung des Tempels bekannt:

“Das Osterfest der Juden war nahe, und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern und Schafen und Tauben und die Geldwechsler sitzen. Da machte er eine Geißel aus Stricken und jagte alle zum Tempel heraus, samt den Schafen und Rindern, verschüttete die Münzen der Geldwechsler und stieß ihre Tische um und sagte zu den Taubenverkäufern: Nehmt dies von hier weg und macht aus dem Haus meines Vaters kein Kaufhaus.” (Joh 2, 13-16)

Johannes sieht hier den Konflikt von Gott und dem Mammon. Der Mammon tritt an die Stelle Gottes, indem er das “Haus meines Vaters” in ein “Kaufhaus” verwandelt. Diese Szene taucht auch bei den Synoptikern auf. Aber sie hat dort nicht die gleiche Bedeutung. Johannes stellt sie dadurch besonders heraus, daß sie bei ihm der zweite Auftritt Jesu in der Öffentlichkeit ist und direkt auf die Hochzeit von Kanaan folgt und daher als Kontrapunkt zu dieser Hochzeit dient. Aber es gibt noch einen anderen Unterschied, der sehr viel wichtiger ist. Bei den Synoptikern sagt Jesus, daß der Tempel zu einer Räuberhöhle gemacht wurde. Bei Johannes hingegen wird er zu einem Kaufhaus gemacht. Das wahrscheinlichste ist, daß der historische Jesus beide Ausdrücke benutzt hat in dem Sinne, daß das Kaufhaus zur Räuberhöhle wird, wenn es den Ort des Tempels, “das Hauses meines Vaters” einnimmt. Denn wo der Tempel zum Kaufhaus wird, wird das Kaufhaus zum Tempel. Alles wird zur Räuberhöhle, und an die Stelle der Ethik Gottes tritt die Ethik der Räuberbande.

Johannes kennt wahrscheinlich die Versionen dieser Szene, in denen Jesus von der Räuberhöhle spricht. Wenn er jetzt das Kaufhaus herausstellt, könnte er dabei eine Absicht haben. Diese Absicht aber kommt in unserer heutigen Sprache nicht zum Ausdruck. Es scheint sich um einen Ausdruck zu handeln, der sehr viel schwächer ist als der Ausdruck Räuberhöhle. Für uns ist es selbstverständlich, daß Kaufhäuser oder Banken Tempel sind, und unsere Kirchen sind dabei, aus den Tempeln Kaufhäuser zu machen. In der Sprache des Johannes ist das aber anders. Da ist es sehr viel schlimmer, aus dem Termpel ein Kaufhaus zu machen als eine Räuberhöhle: nicht einfach eine Räuberhöhle, sondern sogar ein Kaufhaus. Wir können dies kaum nachvollziehen, hat doch heute selbst der Vatikan in Italien eine Bank gegründet, die Bank vom Heiligen Geist (Banco del Espiritu Santo) heißt. Es ist dann gut, einen Satz von Bertolt Brecht zu erinnern, den ich für völlig johanninisch halte: was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank? Ich könnte mir sogar vorstellen, daß Brecht, diesem Meister der Ironie, diese Verbindung mit der Tempelszene von Johannes bewußt ist.

Wir können in diesem Sinne mit Johannes fortfahren: Was ist ein Ehebruch gegen die Steinigung einer Ehebrecherin? Was soll es schon sein, sich am Wein zu berauschen, gegen den Rausch, den man empfindet an der Börse von New York? Was ist eine Räuberhöhle gegen ein Kaufhaus oder eine Bank? Dies ist weder eine Apologie des Ehebruchs noch des Besäufnisses noch der Räuberhöhle. Dies bleibt durchaus Sünde. Aber es ist nicht die Sünde. Diese ist gegenwärtig in der Steinigung der Ehebrecherin, im Rausch an der Börse und im Kaufhaus, das zum Tempel wird. Das was bei Johannes Jesus zeigt, ist die Rückgewinnung der menschlichen Dimensionen des Lebens.

Das Verhältnis zu den Reichen, das Jesus in den synoptischen Evangelien einnimmt, kann man aus dieser Perspektive verstehen. Jesus wird vorgeworfen, daß er sich mit den Publikanern vermischt und Beziehungen aufrechterhält. Alle wissen, daß die Publikaner sehr häufig Betrüger sind und Diebe. Aber die Publikaner selbst wissen das auch. Gerade deshalb kann Jesus mit ihnen verkehren, denn trotz aller Gesetzesübertretungen bleiben sie Menschen, die menschlich denken können. Aber mit den Reichen, die reich geworden sind, indem sie das Gesetz erfüllt haben und die von der Legitimität ihres Reichtums überzeugt sind, verkehrt er nicht und kann es auch nicht. Er verkehrt nicht mit den Publikanern, obwohl sie das Gesetz verletzt haben, sondern weil sie es verletzt haben, aber dabei sehend geblieben sind und nicht erblindeten.

Dies aber erklärt den Zusammenstoß mit den Händlern im Tempel. Gott verschwindet aus dem Haus Gottes und seinen Ort nimmt Mammon ein, der jetzt Gott ist. Aber es ist kein Gesetz verletzt worden. Gerade in Erfüllung des Gesetzes - in diesem Falle des Wertgesetzes – ersetzt es Gott im “Haus meines Vaters”. Gott wird in Erfüllung des Gesetzes entthront. Es handelt sich um einen Akt gegen Gott, der gleichzeitig ein Akt gegen den Menschen ist. Wo der Mensch entthront wird, wird auch Gott entthront. Wenn der Mensch für den Sabbat und für den Markt da ist, wird Gott aus dem “Haus meines Vaters” ausgeschlossen. Aber das Gesetz wird erfüllt. In Erfüllung des Gesetzes wird aus dem Haus Gottes ein Kaufhaus und daher eine Räuberhöhle, deren Gesetz jetzt die Ethik der Räuberbande ist. Es sind Räuber, die ihr Gesetz erfüllen und der, der das Gesetz erfüllt, kann sehr wohl ein Räuber sein.

Demgegenüber ist wieder Jesus der Gesetzesbrecher, der bei der Verletzung des Gesetzes sogar Gewalt anwendet. Kein Gesetz gab ihm das Recht, die Händler aus dem Tempel zu vertreiben. Das Gesetz ist gegen Jesus, nicht gegen die Händler. Die Händler hatten ihre Mietverträge für ihre Verkaufsstände im Hinterhof des Tempels und sie hatten pünktlich ihre Miete bezahlt. Die Konsumenten kamen und kauften bei ihnen die Tiere die sie als Opfer darbringen wollten und das Gesetz gab ihnen das Recht, verpflichtete sie sogar, diese Opfer darzubringen. Sie hatten die Freiheit, gemäß ihrer Präferenzen einzukaufen und die Händler gaben einen guten Kundendienst und dienten auf ihre Art dem Gesamtinteresse. Jesus aber mischt sich ein gegen jedes Recht und jedes Gericht der Welt würde ihn verurteilen und die Zahlung des Schadens verlangen. Außerdem beleidigt Jesus sie, indem er sie Räuber nennt, während sie doch ihre Miete bezahlen und ihre Produkte zum Marktpreis verkaufen. Außerdem, sollten sie ihr Geschäft auf Kredit gegründet haben, diese Kredite aber bedienen wie es die Gerechtigkeit verlangt, weswegen sollten sie wohl Räuber sein? Sie sind gerecht und gerechtfertigt.4

Aber diese ihre Überzeugung enthüllt ihre Unmenschlichkeit. Bei Johannes steht eine menschliche Welt der unmenschlichen gegenüber. Aber die menschliche Welt ist keineswegs eine Welt ohne Sünden. Dennoch, selbst die Sünde ist dort menschlich, sodaß man sprechen und sich verstehen kann. Die unmenschliche Welt hingegen beruht auf der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Diese Sünde scheint es nicht zu geben, sodaß man nicht einmal über sie sprechen kann oder darf. Jesus klagt diese Sünde als Blasphemie an, wenn er sagt, daß das “Haus meines Vaters” zum Kaufhaus gemacht worden sei. Für Johannes ist dies wichtig, denn wenig später wird Jesus der Blasphemie angeklagt werden von jenen, die er der Blasphemie angeklagt hat. Derjenige, der die Blasphemie anklagt, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird, wird durch das Gesetz selbst der Blasphemie angeklagt. Dies ist Ironie des Johannes.

Der Schrei des Subjekts

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