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Jesus und das mosaische Gesetz

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Der Kritik des Gesetzes seitens Jesus unterliegt ständig ein tiefer Sinn der Rückgewinnung des mosaischen Gersetzes. Für Jesus hat das Gesetz in seiner Zeit die Wurzeln des mosaischen Gesetzes selbst verloren. Er sieht es als ein mosaisches Gesetz an, das den Sinn des mosaischen Gesetzes verloren hat. Daher geht alle Kritik des Gesetzes, die Jesus durchführt, von der Rückgewinnung des mosaischen Gesetzes gegenüber diesem mosaischen Gesetz seiner Zeit aus. Jesus versteht sich selbst in seiner Kritik als in der Tradtion des mosaischen Gesetzes stehend.

So sagt er über das Gesetz Moses zu den Juden, die ihm zuhören: “Hat nicht Mose euch das Gesetz gegeben? Und doch tut keiner von euch das Gesetz.” (Joh 7, 19) Er sagt dies Menschen gegenüber, die ihm im Namen des Gesetzes vorwerfen, einen Kranken am Sabbat geheilt zu haben. Sie werfen ihm vor, das Gesetz verletzt zu haben. Jesus hingegen wirft ihnen gerade deswegen vor, das Gesetz nicht zu erfüllen. Er hat am Sabbat einen Kranken geheilt und behauptet, eben dadurch das Gesetz erfüllt zu haben. Seine Zuhörer verteidigen den Sabbat als Legalismus und als formale Norm, sodaß sie überzeugt sind, das Gesetz zu erfüllen. Aber Jesus wirft ihnen vor, es gerade dadurch nicht zu erfüllen. Davon ausgehend, interpretiert Jesus das Gesetz des Moses:

“Mose hat euch die Beschneidung gegeben – nicht, daß sie von Mose stammt, sondern von den Vätern -, und ihr beschneidet einen Menschen am Sabbat. Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit das Gesetz des Mose nicht verletzt werde, was zürnt ihr mir, weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat gesund gemacht habe?” (Joh 7, 22-23)

Jesus argumentiert vom Gesetz des Mose aus. Der Formalismus des Gesetzes des Sabbat wird aufgehoben, wenn es um die Beschneidung geht, denn die Beschneidung ist das Zeichen des Gesetzes, das ein Gesetz ist für das Leben. Jesus interpretiert die Beschneidung als eine Heilung, allerdings als eine partielle Heilung. Daher kann er hinzufügen: “was zürnt ihr mir, weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat gesund gemacht habe?”

Das Gesetz ist ein Gesetz für das Leben. Sofern es das ist, muß es ständig einem Urteil der Unterscheidung unterliegen, sodaß das Gesetz aufgehoben wird immer dann, wenn es nicht für das Leben dient. Jedes formale Gesetz, das diesem Urteil nicht unterliegt, wird zum Gesetz, das tötet. Ein Gesetz rein formal anzuwenden ohne solch eine Unterscheidung, führt zum Tod. Daher ist auch die Ablehnung eines solchen Unterscheidungskriteriums tödlich. Daher sagt Jesus: “Warum sucht ihr mich zu töten?” (Joh 7, 19)

Daher ruft er dazu auf, zu urteilen, denn ein Urteil über das Gesetz ist nötig, damit es dem Leben dient: “Urteilt nicht nach dem Schein, sondern fällt ein gerechtes Urteil.” (Joh 7, 24) Dieses Urteilen ist dem Gesetz selbst nötig, damit es dem Leben dient und es hebt das Gesetz immer dann auf, wenn das menschliche Leben als Urteilskriterium es erfordert. Der einfache Formalismus des Gesetzes hingegen urteilt dem Schein nach und ist nicht gerecht.

Jesus interpretiert das Gesetz des Mose als ein reflexives Gesetz in bezug auf das Leben des Menschen. Es ist ein Gesetz, das für das Leben gegeben ist und deshalb ist es ein Gesetz, das im Namen dieses Lebens herauszufordern ist. Daher kann Jesus gemäß Lukas seine Öffentlichkeitsarbeit als Beginn eines “Gnadenjahres des Herrn” herausstellen. Auch seine Reflektion über den Sabbat läßt er in Geschehnissen der jüdischen Bibel wurzeln. Er kann daher darauf bestehen, daß er nicht gekommen ist, das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen und daß er nicht einen Buchstaben des Gesetzes wegnehmen will. Ich bin daher überzeugt, daß Jesus einen Verlust des mosaischen Gesetzes und seiner Tradition feststellt, die in seiner Zeit geschehen ist. Es handelt sich um den Verlust dieser Reflexivität des Gesetzes in bezug auf das Leben des Menschen und seiner Umwandlung in ein normatives, formal gültiges Gesetz, dessen Erfüllung man erreicht durch einfache und mechanische Erfüllung des Gesetzes als Norm. Tatsächlich ist ja die mosaische Tradition anders. Die Normen gelten vielfach nicht einfach durch formale Legalität; sie werden ständig im Namen des Lebens der Menschen herausgefordert. Diese Herausforderung von Normen läuft häufig auf neue Normen heraus, die die ursprüngliche Norm beschränken. So etwa mit der Norm der Zahlung von Schulden. Da aber solch eine Norm in ihrer Logik die Existenz jeder menschlichen Gemeinschaft untergräbt, fordert man sie durch andere Norman heraus, die sie begrenzen. Solche Begrenzungen sind etwa die Erklärung von Gnadenjahren, Sabbatjahren oder Jubeljahren, die der formalen Norm im Namen des menschlichen Lebens ihre absolute Geltung nehmen. Dies geschieht durch eine Reflexivität en bezug auf dieses Leben, die in das Gesetz selbst eingeführt wird. Alle Gesetze des Mose sind voll von solchen Reflektionen in bezug auf das menschliche Leben, wodurch den formalen Normen die absolute Geltung genommen wird, die der formale Legalismus ihnen aufzwingen will. Dies gibt diesen Gesetzen häufig einen stark kasuistischen Charakter, da ja Normen durch neue Normen begrenzt werden. Aber das, was sich in der Wurzel dieser Kasuistik befindet, ist eine Reflektion des Gesetzes in bezug auf das smenschliche Leben.

Bei allen seinen Zusammenstößen mit dem Gesetz betrachtet Jesus das mosaische Gesetz seiner Zeit als Dekadenz. Er erfährt dieses Gesetz als Gesetz ohne diese Reflektivität. Ein solches Gesetz leitet seine Geltung ganz ausschließlich aus der Erfüllung seiner eigenen Legalität ab unabhängig von den Auswirkungen, die diese Erfüllung auf das menschliche Leben hat. Es ist dann ein Gesetz, das legitim ist, weil es legal ist. In der Sicht aller Evangelien und auch der Schriften von Paulus, der ein ehemaliger Pharisäer ist, erscheint diese legalistische Interpretation des Gesetzes als die herrschende Sichtweise dieser Zeit, die gleichzeitig als Dekadenz des mosaischen Gesetzes gesehen wird. Die großen Repräsentanten dieses Legalismus der Gesetzesnormen sind die Parisäer, während Jesus in seiner Kritik von einem Projekt ausgeht, das die Reflexivität des mosaischen Gesetzes zurückgewinnen und weiterführen will.

Die Evangelien ebenso wie die Schriften des Paulus stimmen in dieser Sicht des Pharisäers zu dieser Zeit überein. Man kann daher annehmen, daß dieser Charakter des Parisäers in dieser Zeit wirklich existierte und bei der Interpretation des mosaischen Gesetzes vorherrschte. Man kann durchaus annehmen, daß sich ein solcher Legalismus, der nicht jüdischer, sondern gerade griechischer und römischer Tradition entspricht, in Palestina seit dem Reich der Ptolemäer und darauf unter römischer Herrschaft ganz allgemein durchsetzte und dann auch die Interpretation des mosaischen Gesetzes beeinflußte. Dies ist besonders evident für den Fall der Geltung des Wertgesetzes und der daraus folgenden Pflicht zur Schuldenzahlung. Die äußerst hoch entwickelten Herausforderungen gerade dieses Gesetzes durch andere Gesetze, die sich auf Gnadenjahre oder Jubeljahre beziehen, waren praktisch verschwunden, wenn sie auch weiterhin im Gesetzestext standen. Zweifellos ließ die Einführung des römischen Rechts als Zivilrecht überhaupt keinen Raum mehr für solche Korrektionen. Tatsächlich war alle Auffassung des Wertgesetzes im Palestina zur Zeit Jesu vom römischen Recht beherrscht, das in dieser Zeit sicher bereits das am meisten formalisierte Recht in bezug auf das Wertgesetz war. Daher ist gerade die Kritik Jesu am Gesetz der Schuldenzahlung faktisch eher eine Kritik am römischen als am mosaoischen Recht. Dies gilt aus dem einfachen Grund, daß ja faktisch das römische Recht auf diesem Gebiete bereits an die Stelle des mosaischen Gesetzes getreten war. Denn ist einmal alle Herausforderung des Wertgesetzes im Namen des menchlichen Lebens beseitigt, bleibt ein völlig ausgeleertes mosaisches Gesetz übrig, das jetzt den Legalismus des römischen Rechts einfach übernehmen und dann auch auf beliebige andere seiner Normen ausdehnen kann.

Ich gehe daher davon aus, daß alle Gesetzesskritik Jesu von dieser Reflektion des Gesetzes in bezug auf das menschliche Leben ausgeht, die er von der Tradition des mosaischen Gestzes her entwickelt. Daher kann Jesus eine Vision der Erfüllung des Gesetzes darlegen, die gerade nicht legalistisch ist, sondern reflexiv: das Gesetz, das immer ein Gesetz für das Leben ist, kann nur erfüllt werden, wenn es ständig im Licht des menschlichen Lebens herausgefordert und damit relativiert wird, sodaß seine Erfüllung selbst seine ständige Verletzung verlangt. In dieser Sicht ist daher die legalistische Erfüllung des Gesetzes selbst eine Verletzung des Gesetzes als Gesetz für das Leben, während gerade die Verletzung des legalistisch verstanden Gesetzes im Licht des menschlichen Lebens dieses Gesetz erfüllt. Denn das Gesetz ist für das Leben dar, nicht das Leben für das Gesetz. Wenn es zum Hindernis für das Leben wird und es dennoch durchgesetzt wird, wird das Gesetz gebrochen, obwohl es im legalistischen Sinne erfüllt wird. So sagt es auch Paulus: “Es gibt keine Rettung durch die (legalistische FJH) Erfüllung des Gesetzes”.5

Der Schrei des Subjekts

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