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Der Realismus des Johannes und das Nein zum Töten

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Das Nein zum Töten schließt ein, daß es niemals gute Gründe zum Töten gibt. Johannes führt dies aus, aber er stellt nie die Frage, wie man im wirklichen Leben handeln kann ohne auch zu töten. Johannes kommt zum Ergebnis, daß es keine guten Gründe zum Töten geben kann. Aber damit endet seine Argumentation. Der Text bleibt völlig offen für die Schlußfolgerungen. Es wird nicht einmal das Nein zum Töten zu einem Projekt gemacht, sondern es wird als Bedingung des menschlichen Lebens unterstellt. Ein Projekt des Handelns liegt nicht vor, aber was gesagt wird, ist, daß das Nein zum Töten im Anfang alles Handelns liegt.

Dieses Nein zum Töten ist kein Gebot im Sinne des: Du sollst nicht töten. Wäre es das, so gäbe es nichts Neues. Alles Gesetz drückt das Tötungsgebot aus und es ist daher auch ein zentrales Gebot im mosaischen Gesetz. Aber alles Gesetz kennt gute Gründe, um zu töten. Vor allem gilt immer demjenigen gegenüber, der getötet hat, das Recht und die Pflicht, ihn zu töten. Das Tötungsverbot als Gesetz ist immer eine Tötungserlaubnis, wenn es gute Gründe zum Töten gibt. Was von Gesetz zu Gesetz wechselt, ist, was als gute Gründe zum Töten gilt. Hier aber wird mit dem Nein zum Töten gesagt, daß es keine guten Gründe zum Töten gibt, und daß alle Gründe, immer dann, wenn sie das Töten begründen, schlechte Gründe sind. Dieses Nein zum Töten ist schlechterdings die Versicherung, daß das körperliche Leben schlechthin das Leben ist. Gute Gründe zum Töten sind immer ideale Gründe, die eine Idealität über das körperliche Leben stellen, weil das Töten immer die Negation des körperlichen Lebens ist.

Aber alles das zeigt nicht, wie zu Handeln ist. Das frühe Christentum begründete einen verbreiteten Pazifismus, der dieses Nein zum Töten zu verwirklichen versuchte. Auf diese Weise konnte der Christ niemals Soldat sein und Soldaten, die sich zum Christentum bekehrten, legten die Waffen nieder und verweigerten den Kriegsdienst. Sie taten dies, selbst wenn sie hingerichtet wurden. Diese Haltung war bis zum 3. Jahrhundert häufig. Sie verschwand in der späteren christlichen Tradition niemals ganz, obwohl sie von der Orthodoxie als Häresie angesehen wurde. Dieses orthodoxe Christentum entdeckte gerechte Kriege und sogar die Heiligen Kriege der Kreuzzüge und erklärte die Beteiligung in diesen Kriegen als verdienstvoll selbst vor Gott.

Innerhalb des Evangeliums des Johannes ist ein solcher Pazifismus ganz sicher eine legitime und mögliche Option. Dennoch bleiben berechtigte Zweifel daran, ob ein unversaler Pazifismus tatsächlich eine realistische Option ist. Tatsächlich ergeben sich Situationen, in denen es unvermeidlich wird, den anderen zu töten. Auch wenn es sich um extreme Situationen handelt, ergeben sie sich immer wieder und sie lassen sich nie völlig vermeiden. Das Johannesevangelium erwähnt diese Tatsache überhaupt nicht, diskutiert sie daher auch nicht. Die Szene mit der Ehebrecherin ist eher so gewählt, daß die Diskussion umgangen wird (Joh 8, 2-11). Ehebruch impliziert keinen Mord. Daher ist es leicht zu zeigen, daß die Todesstrafe unverhältnismäßig ist und folglich eine Sünde ist, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Hätte es sich hingegen um einen Mörder gehandelt, hätte Jesus nicht so einfach reagieren können wie er dies im Falle der Ehebrecherin tun konnte.

Andererseits müßte sich Johannes selbst widersprechen, um einen solchen absoluten Pazifismus als universales Gesetz zu fordern. Sein Ausgangspunkt war ja, daß es kein Gesetz geben kann, das durch seine Erfüllung gerecht macht. Dies unterliegt dem ganzen Evangelium. Er kann dann aber auch nicht das Nein zum Töten als dem Anfang alles Handelns als universales Gesetz fordern. Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, daß er aus diesem Nein zum Töten kein konkretes Projekt macht. Dennoch bleibt es seine Grundforderung.

Gehen wir von dieser Unmöglichkeit aus, das Nein zum Töten, das im Anfang von allem steht, als ein absolutes Gesetz aufzufassen, dessen Erfüllung gerecht macht, so stehen sich zwei Aussagen gegenüber: 1) Es gibt keine “guten Gründe” zum Töten; 2) es gibt Situationen, in denen die Gewalt einschließlich des Tötens unvermeidlich ist.

Auch wenn dies unvermeidlich ist, gibt es dafür keine guten Gründe. Ist die Gewalt unvermeidlich, so bleibt sie illegitim. Sie hat nie die Gerechtigkeit auf ihrer Seite. So verstanden, ist die Gewalt, auch wenn sie unvermeidlich ist, immer ein Scheitern, in dem es nie einseitig Schuldige und Unschuldige gibt. Das Scheitern ist immer die Verantwortung beider, die in eine Gewaltbeziehung einmünden. Die Gewalt ist daher niemals eine “eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Güter” (Hoeffner), sondern ein Verlust höchster menschlicher Güter. Sie zeigt an, daß das menschliche Zusammenleben von allen Seiten aus gescheitert ist und nicht, weil es einen Bösen gibt, den die Guten eliminieren müssen. Bricht die Gewalt aus, so zeigt dies an, daß das menschliche Zusammenleben von allen Beteiligten her neu geordnet werden muß. Alle sind Komplizen und es gibt keinen unschuldigen Richter. Auch wenn es unvermeidlich ist, zu richten, ist der Richter nie unschuldig, sondern ein Komplize des Verbrechers, über den er richtet.

Daher hat die Gewalt nie einen guten Zweck, der ihr Sinn geben könnte. Es gibt keine fruchtbaren Opfer. Nur diese Erkenntnis kann zu einem Neuanfang des Zusammenlebens führen, der aber voraussetzt, daß die Gewalt als Scheitern und nichts als ein Scheitern verstanden wird. Nicht die Gewalt trägt zu diesem Neuanfang bei, sondern die Erkenntnis, daß die Gewalt sinnlos war.

In diesem Sinne kann das Nein zum Töten durchaus einen alternativen Realismus zum politischen Realismus des Kalküls der Gewalt abgeben. Dieser Realismus ruft zu einer Neuformulierung des menschlichen Zusammenlebens auf, die so sein soll, daß das Nein zum Töten effektiv möglich wird.

Wir haben eben dies im Krieg von Kosovo erlebt. Die ethnischen Säuberungen der serbischen Armee und der paramilitärischen Verbände waren ein Verbrechen. Die NATO-Länder hielten die Gewalt für unvermeidlich. Aber sie sind keine unschuldigen Richter. Alle NATO-Länder sind zu Hause in Programme ethnischer Säuberungen verwickelt, die sie unter dem Namen Ausländerproblem abhandeln. In der Bundesrepublik Deutschland fanden kurz vor der Intervention Landtagswahlen in Hessen statt, die mit einem Programm ethnischer Sauberkeit gewonnen wurde. Es ist nicht wahr, daß die ethnische Sauberkeit eine Spezialität der Serben ist, obwohl sie sie zum Extrem geführt haben, zu dem es in den NATO-Länder nicht – vielleicht noch nicht – gekommen ist. Aber sie sind Komplizen.21 Die Gewalt trägt keine Früchte und wird sie nicht tragen. Ganz offensichtlich muß unser menschliches Zusammenleben neu geordnet werden, was aber nur möglich ist, wenn die Richter eingestehen, daß sie Komplizen des Verbrechens sind, über das sie urteilen.

Ein chinesischer Weiser sagte: Schlösser und Riegel machen ein Haus nicht sicher. Damit es sicher wird, darf es keine Fenster und Türen haben. Ein solches Haus ist sicher, aber es ist kein Haus mehr. Damit das Haus wirklich sicher ist, muß man mit seinen Mitmenschen zusammenleben können. Gelingt dies, so ist das Haus sicher. Schlösser und Riegel braucht es dann aber nicht mehr.

Diese Sicherheit, die weder Schlösser noch Riegel braucht, beruht auf dem einzig wirklichen Realismus. Dies ist der Realismus des Johannes, der Realismus durch das Nein zum Töten hindurch. Es ist der menschliche Realismus. Daß immer wieder Situationen entstehen, in denen er scheitert, ändert nichts an der Tatsache, daß er die Basis allen menschlichen Zusammenlebens ist. Schlösser und Riegel können diese Sicherheit niemals ersetzen.

Der Schrei des Subjekts

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