Читать книгу Grundlagen des Methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit - Franz Stimmer - Страница 10
Оглавление2 Zwei Praxisbeispiele
Die beiden Beispiele aus der Suchtberatung und der Aufsuchenden Sozialen Arbeit bezeichnen klassische Arbeitsgebiete der Sozialen Arbeit. Sie unterscheiden sich aber wesentlich voneinander. Im Beispiel der Suchtberatung geht es um die Nachsorgephase, die im Rahmen einer Suchtberatungsstelle und innerhalb eines erfahrenen Teams als zusätzliche Aufgabe gestaltet werden soll. Im Beispiel der Straßensozialarbeit stehen präventive Aufgaben im Vordergrund, wobei die Arbeit von einer noch nicht sehr praxiserfahrenen Sozialpädagogin geleistet werden soll, wo es noch keine Vorarbeiten oder Kooperationen gibt und auch kein ausgearbeitetes Handlungsleitendes Konzept vorliegt.
2.1 Nachsorgephase bei Alkoholabhängigkeit
Da es bei Alkoholkranken nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung trotz zunächst recht guter Stabilisierung häufig im Alltag schnell zu Rückfällen kommt, beschließen die Mitarbeiter einer Suchtkrankenberatungsstelle ein Nachsorgeangebot für Alkoholabhängige in der Beratungsstelle einzurichten. Die Motivation dazu ist insgesamt hoch, eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter der Beratungsstelle, beide Sozialpädagogen, die schon lange im Team mitarbeiten, wollen diese Aufgabe speziell übernehmen. Wie das im Einzelnen aussehen könnte ist zunächst aber noch recht offen. Die Problematik ist zwar allen bekannt, genauere Informationen, was bei Rückfällen eine Rolle spielt, müssen aber erst eingeholt werden. Über Kontakte mit anderen Beratungsstellen, die diese Arbeit schon leisten, werden deren Erfahrungen gesammelt und diskutiert, ebenso spezielle Veröffentlichungen, so dass nach einiger Zeit ein deutlicheres Bild über die Situation dieser Klienten entsteht, und es werden auch methodische Ansätze zur Beratung, Betreuung und Therapie eruiert, die zum Teil schon bekannt sind und in der Beratungsstelle auch praktiziert werden; manche davon sind allerdings auch neu und den Mitarbeitern noch unbekannt. Langsam entsteht ein Bild davon, wie diese Arbeit aussehen könnte, in das auch die bisherigen Erfahrungen der Mitarbeiter mit einfließen. Daraus entwickelt sich eine vorläufige Konzeption, die die Leitlinien festlegt, die mit der Klientensituation, mit den Mitarbeitermöglichkeiten und mit der Konzeption der Beratungsstelle kompatibel sein müssen. Viele kleine Schritte sind noch nötig, bevor die Arbeit erst einmal beginnen kann: Welche Klienten sollen wie angesprochen werden? Nur Männer oder nur Frauen oder beide? Soll es eine altersmäßige Begrenzung geben? Sollen nur die Klienten selbst beraten werden oder sollen auch Angehörige und Arbeitskollegen mit einbezogen werden? Soll eine intensive Werbung in der Tageszeitung betrieben werden, sollen Ärzte oder Fachkliniken als Vermittler gewonnen werden? Ist die Problematik eine rein sozialpädagogische oder sollte nicht von vornherein die Kooperation mit anderen Professionellen mit eingeplant werden? Wenn diese Teilaufgaben entschieden sind, geht es um die Frage, wie denn die Arbeit mit den Klienten gestaltet werden soll. Soll es Individualberatung oder doch besser Gruppenarbeit sein? Reicht eigentlich Beratung aus oder müssten nicht auch psycho-soziale Therapie, vielleicht auch Unterstützung im Alltag oder gar Betreuungsaspekte mit einbezogen werden? Welche spezifischen Methoden werden denn vermutlich erfolgreich sein? Soll es eher um gesprächsorientierte oder doch mehr um handlungsorientierte Methoden gehen? Welche Methoden beherrschen die Mitarbeiter? Welche müssen sie sich noch aneignen? Lassen sich einzelne Verfahren miteinander kombinieren? Gibt es bereits erfolgreiche Handlungskonzepte, die übernommen werden könnten? Wie können die unterschiedlichen Situationen der zukünftigen Klienten erhoben werden? Welche Arbeitsformen und Methoden kennen die Klienten schon aus der Fachklinik? Es sind weiter die schwierigen Fragen zu klären, warum diese Arbeitsform und jene Methode und eben nicht andere gewählt werden. Letzteres heißt auch eine Hierarchie der Zielvorstellungen zu entwickeln, also Fragen zu stellen, was denn eigentlich erreicht werden soll. Wie sehen die Annahmen (Hypothesen) aus? Dies ist wiederum die Grundlage für eine Bewertung der Tätigkeit, also der Frage, ob die Arbeit letztendlich erfolgreich war. Wenn all dies deutlich geworden ist, beginnt die eigentliche Arbeit, die dann allerdings einer ständigen Überprüfung unterliegen muss, was wiederum zu Veränderungen der gesamten Arbeit selbst, der Arbeitsformen, der Methoden, der Klientenauswahl, der Mitarbeiterqualifikationen etc. führen kann.
2.2 Straßensozialarbeit
In diesem Beispiel der Aufsuchenden Sozialen Arbeit beginnt diese ohne größere Vorplanung. In einem Stadtteil einer mittelgroßen Stadt, der wegen des relativ hohen Ausländeranteils, der vielen Sozialhilfeempfänger, die dort leben, und einer sich konstituierenden Drogenszene als »schwierig« gilt, sollen über »Straßensozialarbeit« in präventiver Absicht Kontakte mit Jugendlichen aufgebaut und sozialpädagogische Angebote entwickelt werden. Die Probleme dieses Stadtteils unterscheiden sich aber von der Quantität her wesentlich von denen in manchen Großstädten mit ausgebildeten Drogen-, Kriminalitäts- oder Armutsszenen. Einer Entwicklung in diese Richtung soll durch offene Jugendarbeit vorgebeugt werden.
Die Arbeiterwohlfahrt stellt eine Sozialpädagogin kurz nach deren Studienende zunächst befristet auf ein Jahr für dieses Arbeitsfeld ein. Hier stellen sich gleich wieder eine Reihe von Fragen: Ist das, was geplant ist, mit dem Begriff »Straßensozialarbeit« prägnant umschrieben oder sind nicht andere Konzepte wie die netzwerkorientierte Gemeinwesenarbeit erfolgversprechender? Kennen Mitarbeiter des Trägers oder die Sozialpädagogin alternative Konzepte und die jeweils relevanten spezifischen Methoden? Ist dieses Arbeitsfeld einer Berufsanfängerin ohne grundlegende Weiterbildung zuzumuten? Kann in einem solchen sensiblen Bereich einfach »irgendwie« begonnen werden, ohne Gefahr zu laufen, dass die Arbeit von vornherein auf große Widerstände stößt (bei möglichen Klienten, aber auch bei konkurrierenden Institutionen)? Muss diese Tätigkeit nicht von Anfang an langfristig angelegt sein? Stehen der Sozialpädagogin angemessene Instrumente der Netzwerkanalyse zur Verfügung oder wird sie dabei von MitarbeiterInnen der Arbeiterwohlfahrt unterstützt? Sind Selbstevaluationsverfahren bekannt und in welcher Form werden sie angewendet? Ist die Tätigkeit der Sozialpädagogin in das Evaluationssystem des Trägers integriert? Steht ihr von Beginn an Supervision zur Verfügung? usw.
In dem Praxisbeispiel ist die Sozialpädagogin auf den Straßen des Stadtteils unterwegs, »mischt sich unters Volk«, stellt Kontakte her, macht sich bekannt, hört sich um und macht vorsichtig Angebote. Oft ist aber im weiteren Verlauf auch ein schnelles Reagieren gefragt. Da gibt es Ärger auf einem Spielplatz. Anwohner rufen die Polizei, weil sie sich von Jugendlichen, die sich dort abends treffen und Musik hören, gestört fühlen und weil dabei angeblich auch Drogen die Runde machen. Da die Sozialpädagogin sich vor Aufnahme ihrer Arbeit bei vielen Institutionen und auch bei der Polizei vorgestellt und über ihre Arbeit informiert hat, verständigt die Polizei sie, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Es gelingt ihr, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, wobei deutlich wird, dass nach ihrer Ansicht von einem Drogenkonsum keine Rede sein kann, wenn einige der Jugendlichen auch leicht angetrunken waren. Als Ergebnis des Gesprächs sollen gemeinsam andere Möglichkeiten für die Treffs der Jugendlichen gesucht werden, wobei diese lautstark monieren, dass es im ganzen Viertel kein Jugendzentrum gibt. Hier schließen sich wieder einige Fragen an: Wie kann die Kooperation mit der Polizei begründet werden? Hat die Sozialpädagogin genügend Kenntnisse, um zu entscheiden, ob ein Drogenkonsum bzw. ein Drogenmissbrauch vorliegt? Schätzt sie den Alkoholkonsum als Drogenkonsum ein? Wie kann die Einrichtung eines Jugendzentrums von ihr gefördert werden? Sind politische Aktivitäten dabei sozialpädagogisch zu vertreten? usw.
Neben solchen Tätigkeiten, die die Gestaltung des Freizeitbereichs betreffen, geht es aber auch darum, die Jugendlichen bei der Suche nach Arbeit oder nach einer Lehrstelle zu unterstützen. Viele von ihnen beherrschen die deutsche Sprache nur unvollkommen. Sie kamen mit ihren Eltern als Aussiedler aus Russland, als Flüchtlinge aus Bosnien oder als Gastarbeiter aus der Türkei. So gehört zur täglichen Arbeit der Sozialpädagogin auch die Hilfestellung bei Bewerbungen oder auch vorher schon bei den Schularbeiten ebenso wie Vermittlungsgespräche zwischen Eltern und Jugendlichen, wenn etwa Anzeigen wegen Ladendiebstahls vorliegen. Auch die Kontaktaufnahme zum Jugendamt oder zur Drogenberatungsstelle ist hier und da notwendig, wenn eine Jugendliche nächtelang nicht nach Hause kommt und die Eltern die Sozialpädagogin daraufhin ansprechen oder wenn nachts ein Jugendlicher total betrunken von der Polizei aufgegriffen wird und dies der Sozialpädagogin rückgemeldet wird. Auch hier wiederum einige Fragen: Ist die Sozialpädagogin für all diese Probleme zuständig? Wie kann es ihr gelingen, als »verlängerter Arm« der Eltern oder der Polizei den Kontakt zu den Jugendlichen nicht zu verlieren? Gibt es Verfahren, die die Begleitung und Unterstützung der Jugendlichen strukturieren helfen? Ist eine spezifische Methode für diese Tätigkeit ausreichend oder müssen Methoden und Verfahren kombiniert werden? usw.
Aus den beiden kurzen Beispielen lassen sich zusammenfassend Fragen zum methodischen Handeln ableiten. Mit welchen Begründungen handeln die Mitarbeiter der Drogenberatungsstelle und die Sozialarbeiterin so, wie sie handeln? Werden dabei Theorien oder Forschungserkenntnisse einbezogen? Wird die Arbeit in größere Zusammenhänge integriert (Netzwerke, Gemeindeorientierungen, Jugendhilfeplanung)? Nach welchen Handlungsleitenden Konzepten wird gehandelt (Empowerment, Case Management, Erlebnispädagogik …)? Sind die Arbeitsformen (Einzelarbeit, Gruppenarbeit …) und die Interaktionsmedien (Beratung, Unterstützung, Erziehung, Bildung …) reflektiert in die Arbeit aufgenommen? Gibt es so etwas wie eine Situationsanalyse? Wenn ja, mit welchen Verfahren? Wird nach spezifischen Interventionsmethoden gehandelt und wird dieses Handeln evaluiert (Fremd- oder Selbstevaluation)? Ist Supervision für die Beteiligten gegeben? Wenn ja, welche (Einzel-, Gruppen-, Teamsupervision)? Wenn nicht, warum nicht? Werden berufsethische Fragen reflektiert? Fragen über Fragen, die es bei der Betrachtung konkreten Handelns in der Sozialen Arbeit zu beachten und zu beantworten gilt. Genau dazu dienen die Systematik des Orientierungsrasters ( Abb. 3) bzw. die weiteren Ausführungen in diesem Buch.