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3.5.2 Erstgespräche

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Nach dem Erstkontakt sollte möglichst bald darauf das Erstgespräch folgen, um den noch häufig sehr labilen Wunsch nach Veränderung aufzugreifen, zu fördern und zu stabilisieren. Längere Wartezeiten führen – mangels Alternativen – meist zu einer Beschleunigung des konflikthaften Verhaltens. Überbrückende Zwischenlösungen wie der Besuch einer Selbsthilfegruppe, einer offenen Sprechstunde oder auch telefonische Krisenberatungen können die Problematik eventuell mildern. Im Spezialfall der angeordneten Beratung (»Zwangsberatung«) sind Erstkontakt und Erstgespräch strukturierter und bürokratisierter. In der Schwangerschaftskonfliktberatung beispielsweise – hier ist zu überlegen, ob es sich nach der Definition ( Kap. 7.1.1) überhaupt um eine Beratung handelt – kommt es nach der Terminabsprache meist zu einer Kurzberatung, die mit einer Anwesenheitsbescheinigung endet. Das heißt, dass das Erstgespräch zugleich auch das Letztgespräch ist. Jedoch kann auch diese Intervention intensiver gestaltet werden, wenn die Klientin etwa bezüglich ihrer Entscheidung unsicher ist, wenn möglicherweise ethische Bedenken auftauchen, wenn Druck von außen (Familie, Partner …) erfolgt oder sich auch ein Suchtmittelmissbrauch, der eine Schädigung des Kindes (Embryopathie) befürchten lässt, andeutet.

Ein Erstgespräch kann sich auch über mehrere Sitzungen hin erstrecken, so lange nämlich bis ein klares Arbeitsbündnis (Kontrakt) formuliert werden kann. Erst dann eigentlich wird ein Mensch, der Unterstützung sucht oder dem sie angetragen wird, zum »Klienten«. Diese Bezeichnung wird hier jedoch jetzt auch schon verwendet, um Begriffe wie »Hilfesuchender« oder »Kunde« zu vermeiden ( Kap. 4.5.2). Die folgenden Aspekte sind wesentliche Funktionen von Erstgesprächen (vgl. Kähler 2000 und 2009):

In den Erstgesprächen soll die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Fachkraft und Klienten gelegt werden. Beide begegnen sich zu nächst ja als Fremde, die sich erst langsam, wenn es denn gelingt, einander annähern. In manchen Situationen treffen konträre Welten aufeinander: hier die akademisch gebildete Fachkraft in stabiler beruflicher Position, dort der arbeitslose, aggressive, alkoholabhängige Mitzwanziger ohne Zukunft oder – weniger dramatisch – hier die Beraterin kurz vor der Pensionierung, dort der Jugendliche, der seine Zeit lieber vor dem Computer absitzt und sich Rap-Music herunterlädt anstatt in die Schule zu gehen. Das Akzeptieren des Anders-Sein von Klienten – später vielleicht auch ein wechselseitiges Annehmen des Anders-Sein – bildet die Basis der Verständigung, d. h. wertschätzend dem zu begegnen, was Klienten über ihre Situation erzählen und zunächst wenigstens versuchsweise zu verstehen, was sie bedrückt. Dies heißt auch, ihre Bedenken gegenüber sozialpädagogischen Einrichtungen oder Interventionen zu respektieren, anzuerkennen, dass sie noch unentschlossen sind, u. U. auch hin und her gerissen sind zwischen dem Druck, der von außen kommt und dem was sie selber für richtig halten und gerne auch verändern möchten. Wenn auch eine Veränderungsmotivation entwickelt ist, heißt das noch nicht, dass auch eine Motivation für eine Inanspruchnahme weiterer Hilfen vorliegt. Das Ergebnis der Erstgespräche könnte womöglich aber auch sein, dass Klienten sich gegen eine weitere Zusammenarbeit entscheiden. Dies ist von der Fachkraft – wenn es vielleicht auch schwerfällt – anzuerkennen und zu akzeptieren, ebenso, dass Klienten ihre Situation anders einschätzen als sie selbst aus ihrer professionellen Sicht heraus. Diese Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und auch Wertvorstellungen führt bei Sozialpädagogen möglicherweise zu einem Dilemma, das aufgelöst werden muss – eventuell auch über eine Supervision ( Kap. 10.2) –, soll der Problemlösungsprozess nicht behindert oder gar zerstört werden. Diese Widersprüchlichkeit beinhaltet aber auch ein positives Element, nämlich einen Anlass für Fachkräfte, ihre berufliche Identität – wieder einmal – zu reflektieren ( Kap. 10.1).

Meist reicht es zu Beginn von Erstgesprächen schon aus – was leichter klingt als es ist – einfach zuzuhören (Neugier ausdrückendes aktives Zuhören), ohne zu unterbrechen. Für zukünftige Klienten ist es entlastend, alles erst einmal unkontrolliert erzählen zu können, was sie bedrückt und einen Gesprächspartner zu finden, der nicht gleicht genervt weghört, wie es sonst ihre Erfahrungen im Alltag sind. Die Methode der Wahl in den Erstgesprächen ist zweifelsohne die Klientenzentrierte Gesprächsführung mit ihren Prinzipien der Empathie, Wertschätzung und Echtheit ( Kap. 9.2.1), die es KlientInnen erleichtert, über ihre Situation und sich selbst nachzudenken und sich zu äußern. In den Rahmen der Klientenzentrierten Gesprächsführung lassen sich spezifische Verfahren wie die Motivierende Gesprächsführung ( Kap. 9.3.1) integrieren. Im dialogischen Erstgespräch sollen Klient und Fachkraft auf die Situation des Klienten mit seinen Sachfragen, Problemen, bisherigen Lösungen, Wünschen und Zielen eingestimmt werden. Es geht dabei noch nicht um eine verfrühte Situationsanalyse oder sozialpädagogische Diagnose, sondern um das beginnende offene Sammeln von Informationen. Fachkräfte werden dabei manchmal geradezu überschwemmt mit Auskünften, die es im weiteren Verlauf über angemessene Verfahren zu sortieren und zu strukturieren gilt. Dabei kann zunächst – wie bei einem Weitwinkelobjektiv – überblicksartig ein vorläufiger Eindruck über die momentane Lebenssituation von KlientInnen, über ihre Konflikte und Ressourcen, über die Besonderheiten ihrer jeweiligen Umwelten sowie Wünsche und Zielvorstellungen gewonnen werden.

In den Erstgesprächen macht sich die Fachkraft ein vorläufiges Bild vom Klienten und der Klient wiederum ein solches von ihr. Der Sozialpädagoge findet vielleicht »seinen« Klienten interessant und hofft, dass er wiederkommt, der Klient »seinen« Sozialpädagogen vielleicht sympathisch und hofft, dass er seine Probleme lösen wird. Diese Bilder sollten überprüft werden, zunächst natürlich von der Fachkraft. Gerade bei Erstgesprächen, die ja ganz zentral der Vertrauensbildung dienen, schleichen sich gerne – und das ist völlig normal – Übertragungen ein bzw. Gegenübertragungen dann, wenn SozialpädagogInnen, die ihnen von KliententInnen übertragenen Rollen unreflektiert übernehmen und beispielsweise in die Rolle des väterlichen bzw. mütterlichen, alle Probleme lösenden Freundes bzw. Freundin einsteigen.

Natürlich kommt es auch vor, dass Klienten beim Erstgespräch konsequent schweigen, was aber nicht so gedeutet werden kann, als hätten sie kein Interesse. Vielleicht ist es die Unsicherheit in dieser ungewohnten Situation oder Vorurteile gegenüber einer sozialpädagogischen Einrichtung oder die – manchmal langjährige – Erfahrung, dass es zum eigenen Schutz besser ist, nichts zu sagen oder eventuell auch eine einschränkende Schwierigkeit, sich sprachlich so auszudrücken zu können, wie es innerlich erlebt wird.

Bei den Erstgesprächen sind auch die Möglichkeiten und Grenzen der Fachkräfte sowie der jeweiligen Einrichtungen deutlich aufzuzeigen. KlientInnen müssen wissen, was auf sie zukommt, worauf sie sich einlassen: Wie wird gearbeitet? Entstehen Kosten? Wie häufig sind und wie lange dauern einzelne Treffen? Welche Regeln gibt es (Pünktlichkeit, Terminabsagen)? Wie steht es mit der Verschwiegenheit? Gibt es Ausnahmen von der Schweigepflicht (z. B. Schweige- gegenüber Anzeigepflicht)? Die Antworten auf diese und weitere Fragen sind als Abschluss der Erstgespräche in einer Vereinbarung (Kontrakt) – je nach Arbeitssituation am besten schriftlich – festzuhalten. Bei Problemen bezüglich der Schadensersatzpflicht kann das darüber hinaus durchaus relevant werden ( Kap. 7.3).

Nicht jeder Berater passt zudem zu jedem Klienten. Nicht jede vom Berater beherrschte Methode passt zu jedem Problem, nicht jedes Problem ist in jeder sozialpädagogischen Einrichtung gut aufgehoben. Manchmal wird schon sehr früh deutlich, dass der spezifische Problemfall eher ein Fall für einen Mediziner, Psychotherapeuten, für einen Rechtsanwalt oder für ein Betreutes Wohnen ist (zu den unterschiedlichen »Falltypen« nach B. Müller, Kap. 9.1). Es gilt also, Zuständigkeiten abzuklären. Die eigenen Angebote könnten dann vielleicht nicht ausreichend sein, so dass eine Kooperation mit weiteren Professionen und Einrichtungen notwendig wird bzw. auch deren Organisation im Sinne des Case Management ( Kap. 8.2) sinnvoll ist. Nach den ersten noch ungeordneten und eher zufälligen Informationen zur Situation der Klienten, die häufig eine Vielzahl von Aspekten – meist auch eindeutige Sachfragen – beinhaltet, muss die Komplexität der Eindrücke strukturierend reduziert werden, um überhaupt weiter handlungsfähig zu bleiben. Unabdingbar dafür sind formalisiertere Vorgehensweisen wie sie in den unterschiedlichen Verfahren der Situationsanalyse zur Verfügung stehen, die den Einstieg in den zirkulären Problemlösungsprozess signalisieren.

Die Datensammlung im Erstgespräch ergibt u. U. eine Fülle von Informationen von hoher – oft verwirrender – Komplexität, die in den nächsten Schritten über Analyseverfahren schwerpunktmäßig ( Kap. 5) reduziert werden muss.

Das folgende Beispiel macht abschließend deutlich, wie komplex eine solche Situation – in der ersten Doppelstunde erhoben – sein kann:

Hilfe, worum – oder um wen – geht es eigentlich?

Vorgeschichte: Frau König (43 Jahre), Hausfrau mit zusätzlichen Putzstellen, kommt mit ihrem Pflegesohn Steffen (10 Jahre) zum Hausarzt, weil Steffen seit einiger Zeit »ständig« unter Kopfschmerzen leidet und deswegen auch häufig nicht zum Unterricht geht. Steffen, der seit 6 Jahren bei der Familie König lebt, »zappelt« bei der Untersuchung ständig herum, Fragen des Arztes beantwortet die Pflegmutter, die er »Mama« nennt, er selbst bleibt stumm. Der Arzt findet bei seiner Untersuchung »körperlich nichts«, spricht von »Hyperaktivität« und empfiehlt der Mutter, sie möge doch – am besten mit Hilfe des Jugendamtes – eine Beratungsstelle oder einen Psychotherapeuten aufsuchen.

In der Erziehungsberatungsstelle – die Adresse hat sie von einer Freundin erfahren – zu der Frau König zunächst ohne Steffen geht, macht sie ihrem Herzen Luft: Aufgrund von »Teilleistungsstörungen« besucht Steffen eine Förderschule, in der er sich überhaupt nicht wohl fühlt. Er lügt und stiehlt, versteckt Sachen, die ihm nicht gehören, in seinem Zimmer, uriniert in den Kleiderschrank, es ist ganz einfach schlimm mit ihm. Zur leiblichen Mutter, die »verrückt« sei und oft in der Klinik ist, besteht kein Kontakt, vom Jugendamt – »von dieser blöden, siebengescheiten Sozialarbeiterin« – bekommt sie auch keine richtige Unterstützung, von ihrem Mann schon gar nicht. Überhaupt sei es schwierig für sie: Der 22-jährige Sohn Gerd, der ausbildungs- und arbeitslos ist, wohnt immer noch bei ihnen, raucht den ganzen Tag und sitzt nächtelang vor dem Computer. Jetzt hat er wenigstens den Hauptschulabschluss (»mit sehr guten Noten!«) nachgeholt, aber eine Lehrstelle hat er immer noch nicht. Nachts treibt er sich herum, wo weiß sie nicht, des Öfteren hat er auch schon mit der Polizei zu tun gehabt, wegen (»kleiner«) Schlägereien. Der Sohn Dennis (16 Jahre) ist adoptiert, weiß dies aber nicht. Da sein leiblicher Vater wahrscheinlich Kubaner ist, ist er dunkelhäutiger als seine Klassenkameraden. Er findet die Schule – von der Realschule, für die er keine Empfehlung hatte, musste er auf die Hauptschule zurück – nur noch »Scheiße«, »gammelt« mit Gleichaltrigen und »macht« seine 12-jährige Schwester Anne »an«. Zudem habe sie unter seinem Bett Pornohefte entdeckt und auch einige brutale Pornofilme – im Schrank versteckt – beim Aufräumen gefunden. Sie befürchtet, dass ihr Sohn sich alles verbauen würde und vielleicht sogar zum Vergewaltiger werden könnte. Ihr Mann Gerd »senior« (wie er sich gerne selbst nennt), 45 Jahre, Hausmeister in einem großen Betrieb, findet ihre Ängste »einfach nur lächerlich«. Im Alter von Gerd wäre er genau so gewesen und dennoch nicht kriminell geworden. Frau S. glaubt, dass er fremdgeht, weil er sie kaum mehr beachtet, er habe sich überhaupt sehr verändert, »schmust« mit Anne rum, während sie gemeinsam im Fernsehen Filme anschauen. Auch trinkt er in letzter Zeit – vielleicht seit einem 1 Jahr – auffällig mehr, so dass er einige Male schon recht betrunken und dabei auch aggressiv war: »Er hat einfach alle Gläser vom Tisch gewischt, aber geschlagen hat er mich noch nie!« Was er beruflich eigentlich macht, darüber spricht er gar nicht mit ihr. Manchmal kommt er aber sehr müde nach Hause. Gemeinsam zur Beratung zu gehen habe er vehement abgelehnt, da ihm »so ein Psychoquatsch am Arsch vorbei« gehe.

Alle haben sich von ihr zurückgezogen. Ihr Mann hält sich aus allem heraus, wenn dann schimpft er nur herum. Zu Steffen ist er zudem ungerecht, manchmal hat er ihn auch schon geschlagen, aber »nur leicht!«. Sie berichtet, dass ihr Mann eine sehr schwere Kindheit gehabt hätte, dass er – soweit sie das über ihren Schwager erfahren hätte – wohl auch häufig von seinem Vater verprügelt wurde. Eine höhere Schule durfte er nicht besuchen, da bei ihm sowieso »Hopfen und Malz« verloren sei. Sie selbst sei dagegen »wohlbehütet« aufgewachsen. Nach dem Abitur wollte sie studieren, habe dann aber schon ihren jetzigen Mann kennen gelernt und sei schnell schwanger geworden. Da aber ihr Mann noch in der Ausbildung zum Elektriker war, habe sie – eigentlich gegen ihren Willen – das Kind, von dem sie heute noch träumt und über das sie heute noch weint, »wegmachen lassen«. Später habe sie dann ihren Mann geheiratet. Gleich nach der Geburt von Anne sei sie »sehr traurig« geworden. Der Arzt habe ihr dann irgendwelche Medikamente gegeben, die haben aber auch nicht viel gebracht, ihr sei einfach nur »schwummerig« geworden, dann war alles nur noch schlimmer. Ihr Mann meinte, sie solle sich »zusammenreißen« und sich »nicht so gehen lassen«. Früher seien die Frauen nach der Geburt auch »gleich wieder in den Kuhstall gegangen«.

Das ganze Haus ist »voller Viecher«, die Dennis vom Vater bekommt: Schlangen, Katzen, Hunde, Hamster … Das Saubermachen bleibt aber meistens ihr überlassen. Am Sonntag ist sie oft auch noch als Tagesmutter tätig.

Nachdem Frau König sich »Luft gemacht« hat, spricht die Beraterin, eine junge Sozialpädagogin Anfang 30 mit einer Zusatzausbildung in »Klientenzentrierter Beratung« nach Rogers, zunächst noch das Thema »Förderschule« an. Dabei wird deutlich, dass es Frau König »erst einmal reicht«, dass sie »aber bestimmt« zum nächsten Termin wiederkommen will. Zur Strukturierung der Fülle von Informationen bieten sich hier Verfahren der Netzwerkanalyse ( Kap. 5.5), vor allem zunächst die der Beziehungs- und Rollennetzwerke, an.

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