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3.5.3 Von der Informationssammlung bis zur Verabschiedung
ОглавлениеNach dem Erstkontakt, dem Erstgespräch und dem Kontrakt für eine weitere gemeinsame Arbeit folgt der Einstieg in den eigentlichen zirkulären Problemlösungsprozess mit der ersten Phase der erweiterten und strukturierteren Informationssammlung bzw. mit der damit zusammenhängenden Situationsanalyse.
Zur Informationssammlung stehen zunächst grundsätzlich einige allgemeine qualitative Verfahren soziologischer Forschungsmethoden der Datenbildung wie Protokollieren, teilnehmende Beobachtung und offene Interviews (narrative Interviews) zur Verfügung, die eine umfassende Informationssammlung von u. U. hoher Komplexität ermöglichen, die, um handlungsfähig zu bleiben, wieder reduziert werden muss. Wenn in der Forschung die Frage nach der Validität der qualitativen Verfahren Sinn machen kann, im zirkulären methodischen Handeln sind sie zweitrangig, da alle Erkenntnisse schon – zumindest idealtypisch – im weiteren Verlauf in einem stets auch evaluativen Prozess immer wieder hinterfragt werden. Dadurch verdichten sich die einzelnen Elemente zu einem tragfähigen und erkenntnisreichen Insgesamt – immer unter dem Vorbehalt der Wahrscheinlichkeit, wenn gar der Kontingenz. Je nach Handlungsfeld können die erwähnten qualitativen Verfahren in unterschiedlicher Weise Anwendung finden, in manchen sind sie unangebracht. Wenn ein Mensch halbverhungert unter der Brücke liegt, sind dreistündige narrative Interviews, tiefenpsychologische Verfahren oder Fragen wie »Was macht das jetzt mit Ihnen?« natürlich lächerlich. Anders ist es jedoch, wenn beispielsweise eine längerfristig angelegte Beratung eines suchtkranken Menschen geplant ist.
Zu den eruierenden qualitativen Verfahren gehört besonders das »Narrative Interview« (Schütze 1983) bzw. dessen Weiterentwicklung für den Bereich der Sozialen Arbeit als »Biographisch-narrative Gesprächsführung « (Rosenthal u. a. 2006 und Völzke 2005), über die KlientInnen anhand einer spezifischen Struktur angeregt werden, stegreifartig über ihr Leben zu erzählen ( Kap. 5.6). Bezüglich seiner Bedeutung für den sozialpädagogischen Arbeitsbereich wird das narrative Interview zumindest von zwei Seiten her hinterfragt. Girtler, dessen Arbeitsbereich auf Randkulturen fokussiert ist, weist den Begriff »narratives Interview« als zu technizistisch und auf schnelle Ergebnisse fixiert zurück und führt das bedenkenswerte Kunstwort »ero-episches Gespräch« ein (2000, S. 187 f.), das sich aus den beiden griechischen Wörtern »eromai« (fragen) und »eipon« (erzählen) zusammensetzt und ein gemeinsames Erzählen und Fragen meint, ein Wechselspiel, das sich während des Gesprächs ergibt und bei dem sich die Fachkraft vom Klienten leiten lässt. In ähnlicher Weise argumentiert Gieschler (1999), wenn sie den distanziert-stringenten Regeln des narrativen Interviews das Verfahren der »Oral History« gegenüberstellt, bei dem vor allem die Empathie des Fragenden das zentrale Moment ist, über das KlientInnen in ihre Erinnerungen geleitet werden.
Neben den für die Soziale Arbeit unspezifischen Verfahren der qualitativen Sozialforschung, die für die Informationssammlung ihren Beitrag leisten können, beginnt der präzise sozialpädagogische Einstieg in das Modell des zirkulären Problemlösungsprozesses mit der Situationsanalyse:
Über die allgemeinen und spezifischen Verfahren der Situationsanalyse ( Kap. 5) sammeln Fachkräfte der Sozialen Arbeit mit den KlientInnen bedeutsame Informationen über relevante Beziehungs- und Rollennetzwerke, über familiale Zusammenhänge, wichtige Lebensereignisse sowie Einflussfaktoren aus den meso- und makrosozialen Netzwerken ( Kap. 8.3.2). Aus den daraus gewonnenen Informationen lassen sich dann subjektorientierte ( Kap. 4.5) Soziale Diagnosen ableiten. »Sozial« im zweifachen Sinne, erstens sind die Beziehungen der Klienten in und mit ihrer Umwelt gemeint (Sozialökologie; Kap. 8.5) und zweitens die Entstehung dieser Diagnosen als gemeinsamer Akt zwischen Klient und Fachkraft (Partizipation; Kap. 4.6). »Diagnose« wird hier als »Erkenntnis« definiert, als das, was der Klient aus den Analysen erkennt, und das, was die Fachkraft daraus erkennt. Die Auseinandersetzung mit den Verfahren der Situationsanalyse führt so zunächst zu einem Erkenntnisgewinn für beide Beteiligte, der jedoch inhaltlich nicht gleich sein muss, so dass u. U. erst über eine dialogisch-reflexive Diskussion eine Annäherung stattfindet, oder vielleicht auch nicht. Wenn letzteres eintritt, haben erst einmal die Situationsdefinitionen, die Erkenntnisse/Diagnosen des Klienten Vorrang. Diagnosen in dem hier verwenden Sinne sind immer zielgerichtet, sie drängen, möglichst kreativ, auf eine Veränderung des Ist-Zustandes. In dem – sehr einfach konstruierten – Beziehungsnetzwerk von »Heinz« ( Abb. 13) fällt z. B. sofort ins Auge, dass seine Beziehungen – in welcher Reihenfolge auch immer – mit seiner Ehefrau, seiner Tochter und eventuell auch mit seiner Mutter geklärt werden könnten. Die Graphik allein dient aber erst nur der Informationssammlung, deren Gehalt erst im Gespräch mit der Fachkraft näher analysiert werden muss (zu diesem Beispiel Kap. 5.5.1), um diagnostisch zu erkennen, Ziele zu entwickeln und zu verfolgen. Falls möglich und für den Klienten bzw. in der Prozessphase sinnvoll, sollen alle Prozessbeteiligten real mit ihren Meinungen und Klarstellungen mit einbezogen werden ( Kap. 5.3, Kap. 5.5.6 und Kap. 5.7). Die Technik des fiktiven Rollentauschs bietet eine gute Möglichkeit, den relevanten Personen »Sprache zu geben«. Warum etwas so geworden ist, wie es ist, also die biographische Vertiefung und Erkenntnis des Ist-Zustandes, ist oft eine notwendige Ergänzung, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu planen. Die Beziehungs- und Rollennetzwerke, das Genogramm, die PRO-ZIEL-Diagnose und das Life-Events-Diagramm und die erwähnten Variationen biographieorientierter Gesprächsführung vermitteln das methodische Rüstzeug dafür.
Nach der Situationsanalyse folgen die weiteren Prozessphasen, die inhaltlich in den verschiedenen Kapiteln beschrieben werden:
• Nach der (vorläufigen) sozialen Diagnose gilt es Ziele ( Kap. 6.1) und Thesen ( Kap. 6.2) zu formulieren, die natürlich auch schon im Erstgespräch oder in der Analysephase mehr oder weniger deutlich angesprochen wurden. Nun sollten sie aber nach den Regeln der Kunst bestimmt werden, um zu verhindern, dass sie nebulös bleiben. Ein pauschales Ziel wie »Abstinenz« muss in spezifische Zwischenziele zerlegt werden oder es muss eine Zielehierarchie entwickelt werden usw., um Ziele erreichbar zu machen. Ähnliches gilt für die Formulierung von Thesen, die einerseits vergangenheitsbezogen formuliert sein können – wie kam es dazu, dass es so ist, wie es ist – oder (in Verbindung mit den Zielen) auf die Zukunft gerichtet sind – was muss ich heute tun, damit es so wird, wie ich es möchte?
• Die nächsten Schritte sind – bezogen auf die Zielverfolgung – geprägt durch die Planung – unter Berücksichtigung von Alternativen – und die Wahl »passender« Arbeitsformen ( Kap. 8.5.1), Interaktionsmedien ( Kap. 7), Handlungsleitender Konzepte ( Kap. 8), Methoden, Verfahren und Techniken ( Kap. 9) sowie der Reflexion und Evaluation ( Kap. 10) des Problemlösungsprozesses bezüglich der technologischen Effektivität (Angemessenheit der Analyse, Konzepte, Methoden …) und der Qualität der Durchführung (Effizienz). Ein Abschlussgespräch, bei dem Klient und Fachkraft miteinander auf den Verlauf der gemeinsamen Arbeit zurückblicken, deren Ergebnisse reflektieren und sich bewusst verabschieden sowie ein Abschlussbericht beenden den Problemlösungsprozess ( Kap. 8.2.2).