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4.5.1 Individuum und Gesellschaft
ОглавлениеSubjektorientiert geht es um eine Sichtweise, die die Wechselwirkungen zwischen Sozio- und Psychogenese im Auge behält (Elias, Berger, Luckmann u. v. a.), oder um die Interdependenz zwischen »Gesellschaft im Menschen« (über Sozialisation, Internalisierung: Werte, Normen) und zwischen »Menschen in der Gesellschaft« (Gestaltung der Lebenswelt, Lebensführung, Macht, Kontrolle) (Berger 1973). In diesem Zusammenhang könnte die berühmte Metapher des »Spiegel-Selbst« von Cooley (1902, S. 152) auch auf größere Netzwerke übertragen werden. Nach Cooley entwickeln Menschen eine Vorstellung von sich selbst aus der reflektierten Perspektive ihrer Mitmenschen, die quasi den Spiegel für sie bilden, in dem ihr Bild zurückgeworfen wird. Übertragen auf ausgedehntere Netzwerke bedeutet dies, dass Gesellschaft (Netzwerke) zum Spiegel ihrer Mitglieder wird, die wiederum zum Spiegel ihrer Gesellschaft (Netzwerke) werden.
Die Formulierung »Mensch und Gesellschaft« ist insofern irreführend, da »Gesellschaft« immer nur lebensweltlich, lebenslagen- und lebensaltersspezifisch gefiltert alltäglich wahrnehmbar ist. Manche gesellschaftlichen Strukturen sind breit wirksam, andere wieder höchst spezifisch. Die Bemühungen der Sozialen Arbeit in der Praxis sind dann auf Subjekte, auf handelnde Menschen in ihren alltäglichen Lebenswelten gerichtet, die quasi die »interlinking spheres« (Eisenstadt) zwischen Menschen und makrosoziologischen Strukturen bilden. In diesen mikro- und mesosozialen Netzwerken – Familie, Freundschaften, Freizeit, Schule, Gemeindeverwaltung, Jugendämter … – liegen zumindest die Möglichkeiten einer Veränderung, ebenso aber auch die Genese von Konflikten. Subjekte entwickeln unter Begrenzung ihrer genetischen, physischen, psychischen und sozialen Möglichkeiten ihre Lebensstile und ihre Lebensführung in ihren sie prägenden sozialen und ökologischen alltäglichen Umwelten, die wiederum durch kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten mitbestimmt werden ( Abb. 2). Dies ist allerdings keine deterministische Einbahnstraße, sondern gekennzeichnet durch vielfältige Interdependenzen ( Kap. 6.2: Thesenformulierungen) und wechselseitiges Einwirken, die grundsätzlich für Gesellschaftsmitglieder die Chance eröffnen, ihre direkte alltägliche Umwelt und im Endeffekt ihre Kultur und Gesellschaft aktiv zu gestalten.
Diese Sicht entspricht theoretisch der Subjektorientierten Soziologie (Bolte 1983) in deren Zentrum Menschen in ihren alltäglichen Lebensbezügen stehen oder genauer, es geht um das »wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft« (ebd. S. 15) und um die Frage (ebd. S. 15 f.) wie menschliches Denken, Fühlen und Handeln durch gesellschaftliche Strukturen und Prozesse (Herrschaft, Macht, Kontrolle, Ausgrenzung, Unterdrückung) geprägt und Individualität soziohistorisch geformt wird, aber besonders auch, wie Menschen durch ihr Handeln rückwirkend auf die Stabilisierung oder eben auch Veränderung des lebensweltlichen/gesellschaftlichen Rahmens Einfluss nehmen. Hinter einer solchen gesellschaftskritischen Auseinandersetzung lassen sich Fragestellungen ableiten, die für die Soziale Arbeit höchst relevant sind: erstens »welches »Modell« vom Menschen und welche Art von »Zwischenmenschlichkeit« bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse erfordern, zulassen und erzeugen« und zweitens »wo überhaupt im Handeln von Menschen innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Strukturen jene Momente liegen, die zur Reproduktion dieser Strukturen führen, und wo Spielräume individueller (und Gruppen- d.Vf.) Autonomie bleiben« (Bolte 1983, S. 29). Für die Soziale Arbeit stellt sich die selbstkritische Frage inwiefern sie als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse – als Wohlfahrtsgewerbe – deren Reproduktion fördert und damit selbst zu einem Risikofaktor wird oder aber auch gesellschaftskritisch und -verändernd agiert ( Kap. 8.5.1 »Life Model«).
Soziale Arbeit hat damit nicht nur einzelne Menschen und Gruppen in ihrer individuellen und gruppenbezogenen Verfasstheit – Sichtweisen, Verhalten, Wünsche, Ziele, Konflikte, Lebensstile, Lebensführung, Leiden, Unvermögen – im Blick, sondern auch deren lebensweltliche/gesellschaftliche Prägung, kann dabei aber nicht stehen bleiben. Ihre Aufgabe ist über methodisches Handeln die Aufklärung dieser Beziehung zwischen Verhalten und Verhältnissen, d. h. auch Wissensvermittlung, aber eben auch ganz zentral die Förderung von widerständigen Potentialen und Handlungsalternativen auf allen Netzwerkebenen. Theoretisch wie praktisch sind dabei zwei gleichwertige prägende Richtungen zu verfolgen, eine zentrifugale (vom Individuum ausgehen in Richtung Gesellschaft) und eine zentripetale (von der Gesellschaft ausgehend in Richtung Individuum). Im holistischen Begriff der Subjektorientierung sind die beiden Richtungen aufgehoben ( Kap. 8.5.1 »Life Model«). Es wäre allerdings für die Praxis der Sozialen Arbeit ein verhängnisvoller Anspruch, dieser Komplexität immer und gar gleichzeitig gerecht werden zu wollen. Reduktion ist das Mittel der Wahl, um handlungsfähig zu bleiben, den Blick auf die jeweils andere Richtung aber keinesfalls zu ignorieren und sich bewusst zu sein, in welcher Situation und warum welche Richtung gewählt wurde, kurzum also die Praxis zu begründen (»Warum und wozu handle ich so, wie ich handle?«).
Begrifflich sind im Modell der Subjektorientierung Lebensstil und Lebensführung zu unterscheiden. Unter Lebensstil ( Abb. 2) wird hier verstanden das mehr oder weniger verfestigte Insgesamt von – sich wiederum wechselseitig beeinflussenden – Handlungsmustern, Meinungen, Gewohnheiten, Wertvorstellungen, Wissensfundus, Konsummuster und Bewältigungsstrategien eines Menschen, jedoch auch einer Gruppe von Menschen sowie von Subkulturen. Der Begriff der Lebensführung bzw. der »Alltäglichen Lebensführung« (Voß 1997) ist auf die Art und Weise bezogen, wie Menschen in ihrer Lebenswelt handeln (wollen, sollen, müssen) und tätig werden und ihren Alltag mit den gegebenen Aufgaben gestalten und mehr oder weniger ausgeprägt auch bewältigen (Copingstrategien Kap. 8.1.1 und »Life Model« Kap. 8.5.1). Durch die Segmentierung und teilweise kleinteilige Fragmentierung von Lebenswelten und Subwelten in verschiedene und unterschiedene Lebensbereiche mit mehr oder weniger starker gegenseitiger Abgrenzung entstehen – bei aller Routine – hohe Anforderungen an Rollenflexibilität und Beziehungskompetenzen, um den unterschiedlichen Ansprüchen ohne zu starke Brüche gerecht zu werden ( Kap. 5.5 Netzwerkanalyse und Abb. 17). Es gilt, eine Kohärenz der Lebensbereiche ohne zu große Dissonanzen herzustellen (»Life Management«) und ein Gefühl von Kohärenz zu entwickeln (Antonovsky 1979) ( Kap. 8.1.1). Falls dies nur unzureichend gelingt, ist die Identität von Menschen und damit ihr Selbst(wert)gefühl bedroht, horizontal in den gegenwärtigen Bezügen und vertikal in den biographischen Verläufen. Konflikte, aber auch Unterstützungsmöglichkeiten lassen sich innerhalb der einzelnen Lebenssegmente feststellen (Partnerschaft, Arbeit, Freizeit …), aber eben auch zwischen den einzelnen Teilbereichen (Arbeit und Familie …). Bestimmte Lebensstile haben dabei u. U. bezüglich der alltäglichen Lebensführung entlastende Funktionen (Rocker, Fußballfans, Adel, Mode …) ( Kap. 4.2).