Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 7
PROLOG
ОглавлениеNOCH NIE WAR IHM IN DEN SINN GEKOMMEN, dass er sterben könnte. Es hatte keinen Grund gegeben, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Gut, ab und zu hatte er sich in seinen jugendlich-heroischen Tagträumen vorgestellt, wie es wohl wäre, sich wegen einer schönen Frau zu duellieren. Doch in seinen Träumen war nicht er es gewesen, den der Tod ereilt hatte. Wie auch? Es waren schließlich seine Fantasien, deren Ausgang nur er allein bestimmte.
Jetzt aber waren es die Träume eines Fremden, eines Menschen, dem das Leben anderer weder heilig noch in irgendeiner Art wertvoll war. Wie abgrundtief musste der Hass dieses Mannes sein, um ihn so sehr zu quälen? Wann immer Schauergeschichten über Folter oder die Verbrennung von Ketzern in sein behütetes Leben eingedrungen waren, hatte er sie mit einem bedauernden Kopfschütteln kommentiert, doch damit war seine Anteilnahme auch schon erschöpft gewesen.
Seit letzter Nacht wusste er, was es bedeutete, gefoltert zu werden. Wusste, was es hieß, unbeschreibliche Schmerzen zu erleiden, die glühende Speerspitzen, Peitschen mit Widerhaken, in Salz getauchte scharfe Dolche und langsam trocknende Lederriemen hervorriefen.
Als der Don ihn vor einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen war, hierherbringen ließ, hatte der Gepeinigte den Tod angefleht, Erbarmen zu zeigen. Dieser aber hatte sich taub gestellt.
Seit sie ihn an das Kreuz geschlagen hatten, fühlte er, wie er zunehmend schwächer wurde. Weshalb nur konnte er nicht einfach aufgeben, warum kämpfte er mit aller Kraft um sein verfluchtes Leben? Die Antwort war ebenso einfach wie grausam: Sein junger, einst kräftiger Körper, sein starkes Herz, ja selbst sein Verstand, den er kaum mehr zu kontrollieren vermochte – einfach alles in ihm wehrte sich dagegen, zu sterben.
Albtraumhafte Visionen huschten durch seinen wunden Geist. Seine Eltern Hand in Hand, blutüberströmt und doch lächelnd, schritten langsam auf ihn zu. Seine Mutter trug Asma auf dem Arm, deren lockiges Haar von geronnenem Blut verkrustet an ihrem Engelsgesicht klebte.
Hör auf! Hör auf zu denken, hör auf zu kämpfen!, flehte er sich selbst in Gedanken an. Ich will endlich sterben, so wie die, deren Tod ich zu verantworten habe!
Trotz der Seile, die ihn hielten, knickten seine Beine weg, und die eisernen Nägel, die von den Folterknechten durch die Handflächen getrieben worden waren, rissen ihm das Fleisch ein. Sein ganzer Körper war eine einzige, lichterloh brennende Wunde.
Endlich, kurz bevor die Schmerzen ihn in den Wahnsinn trieben, breitete sich in seinem Kopf eine dunkelblaue Samtdecke aus, mit einem hellen Schimmer darüber.
Die Stimmen der Folterknechte wurden stetig leiser und verschmolzen zu einem fast nicht mehr wahrnehmbaren Murmeln.
All sein Sehnen richtete sich auf das helle Schimmern und wäre es ihm noch möglich gewesen, so hätte er jetzt gelächelt. Dieses Licht – dorthin musste er gelangen, dann würde endlich alles vorbei sein!
Plötzlich drang aus der dumpfen Geräuschkulisse etwas heraus, das seinen versiegenden Geist noch zu erreichen vermochte. Der Todesschrei eines Menschen, ein wildes Gurgeln, ein lautes Knacken und Reißen, und alles übertönend ein dunkles Knurren.
Er wollte nichts mehr hören und weg von allem Leid, also wandte er sich erneut dem Licht zu, das ihm jetzt heller erschien als zuvor.
Ein kühler Lufthauch strich über seinen gepeinigten Körper und er fühlte den Druck sanfter Hände. Seine Schmerzen wurden leichter, sein Körper löste sich von der Erde und flog dem Licht entgegen.
»Halte durch, mein Junge, halte durch! Du hast so lange gekämpft, gib jetzt nicht auf! Lebe, mein Junge, lebe!«