Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 9
1. Granada, 1492
ОглавлениеES WAR MIT SICHERHEIT einer der atemberaubendsten Sonnenuntergänge, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Mohammed al Hassarin lehnte sich noch ein wenig weiter über die marmorne Brüstung des geschwungenen Balkons, um auch wirklich jede Sekunde dieses herrlichen Naturschauspieles in sich aufsaugen zu können. In der Ferne tauchte die rotgoldene Sonne die Spitzen der eindrucksvollen Mauern der Alhambra in warmes, gelbes Licht. Mohammed genoss die Wärme des Sommerabends und den Duft der unzähligen Blüten, den der laue Wind des Südens zu ihm hinauftrug.
Der große Park war ein einziges Meer blühender Blumen, liebevoll gepflegt von seiner Mutter Fathwa. Er neigte den Kopf, schloss die Augen und lauschte in den Abend hinaus. Das Plätschern der Springbrunnen vereinte sich mit dem Gesang der Vögel in den Bäumen zu einer geheimnisvollen, die Fantasie anregenden Melodie. Mohammed liebte sein Zuhause. Umso mehr beunruhigten ihn die Pläne, die sein Vater derzeit verfolgte.
Hatte Yussuf al Hassarin bis vor Kurzem auf Nachfragen hin noch abwiegelnd erklärt, es sei nichts, er habe nur viele Dinge, die ihm auf der Seele lägen und die der Erledigung bedurften, so waren seine Absichten seit einiger Zeit offenkundig. Yussuf plante, Andalusien zu verlassen. Jedoch wollte er das nicht allein tun. Seine gesamte Familie, alle engen Freunde sollten ihn begleiten – zu ihrem Besten, so sagte er.
Mohammed konnte die Pläne des ansonsten von ihm geliebten und hoch geschätzten Vaters nicht verstehen. Sicherlich, wieder einmal war offener Streit ausgebrochen zwischen Sarazenen und Christen – wie schon in den Jahren zuvor, war es auch dieses Mal wieder um Ländereien gegangen, die von den Christen als ihre eingefordert wurden. Mohammed schmunzelte. Kein Wunder, dass sie die von den Sarazenen zu einem blühenden Garten Eden verwandelte einstige Ödnis nun nur allzu gern selbst besitzen wollten. Aus Staub und Sand hatten sie ein arabisches Märchen geschaffen, ein Märchen, das auch die Spanier träumen ließ. Es ließ sie träumen von einem Land, das sie viel zu wenig geschätzt hatten – ein Land, das sie für wenige Goldstücke an die Sarazenen verkauft und sich dann damit gebrüstet hatten, dass sie Staub zu Gold verwandelt hätten. In Wirklichkeit waren es die maurischen Einwanderer gewesen, die mit ihrem umfangreichen Wissen, ihrer Baukunst und ihrem Talent, aus jeder Erde grüne Ebenen hervor zu zaubern, den Staub vergoldet hatten.
Erneut glitt Mohammeds Blick hinüber zur Alhambra, dem besten Beispiel dafür, was man mit dem nötigen Wissen aus dem Nichts erschaffen konnte. Bei dem Gedanken daran, dass er diese ganze Pracht zurücklassen, seine nicht unbeträchtlichen Habseligkeiten zusammenpacken und dann seine Heimat verlassen sollte, um einer ungewissen Zukunft in Marokko entgegenzusegeln, wurde ihm übel. Andalusien war seine Heimat, hier war er geboren und aufgewachsen, hier hatte er zudem die Liebe seines Lebens gefunden. Ana! Seit er die schöne Duquesa zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er sie nicht mehr vergessen. Mohammed schwang sich auf die Brüstung und lehnte den Kopf an die glatte, kühle Marmorsäule hinter sich. Ana war eine Schönheit, sie war groß, von anmutiger Gestalt, mit hellem Haar, das ihr wie eine goldene Welle über den Rücken floss. Sie kam aus besten Familienverhältnissen, benahm sich aber bei Weitem nicht so hochnäsig und herrisch wie viele der jungen Damen der Gesellschaft. Ana war gebildet, großherzig und pflegte einen freundlichen Umgang mit allen Menschen. Zwar musste Mohammed sich eingestehen, dass ihm ihre Schönheit zuerst ins Auge gefallen war, doch nach näherem Kennenlernen war er endgültig verloren. Ana war nicht einfach irgendeine Frau, nein, sie war ein Engel! Ein tiefes Seufzen stieg aus seiner Kehle empor und wurde von einem leisen Lachen beantwortet.
»Ja, dein Leben ist sicherlich hart und beschwerlich. Wenn ich dir in irgendeiner Weise Erleichterung verschaffen kann, dann bitte sprich mit mir, mein Sohn.«
Wie immer war sein Vater so leise hinter ihn getreten, dass der in Gedanken Versunkene ihn nicht gehört hatte. Mohammed stand auf und schloss seinen Vater in die Arme.
»Vater, wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht!«, rief er, ohne auf den Scherz einzugehen. »Du warst volle zwei Tage weg! Mutter wollte niemandem sagen, wohin du so unangekündigt verschwunden bist. Wo warst du also?«
Die prächtige Kleidung Yussuf al Hassarins war staubig, und auch in den feinen Linien seines ausdrucksstarken Gesichtes hatte sich der Schmutz abgesetzt. Als habe er die beiden Tage durchgehend im Sattel gesessen.
Der Vater küsste seinen Sohn auf beide Wangen. »Setz dich, Mohammed, ich muss mit dir sprechen! Dazu würde ich auch gern sitzen, ich bin etwas müde.« Er zog sich einen der geflochtenen, mit Seidenkissen gepolsterten Sessel heran. Mohammed ließ sich wieder auf der Brüstung nieder. Yussuf zog leicht tadelnd eine Augenbraue hoch.
»Mein Sohn, du wärest wohl besser in einer Nomadenfamilie aufgehoben. Kannst du dir nicht angewöhnen, einen angemessenen Sitzplatz zu wählen? Muss es immer der Boden, das Gras, eine Brüstung oder gar ein Baum sein?«
Mohammed grinste ihn herausfordernd an. »Noch habe ich Zeit, erwachsen zu werden, Vater. Ich werde danach mein restliches Leben lang erwachsen sein.«
Zu kurz huschte die Andeutung eines Lächelns über Yussufs müdes und sorgenvolles Gesicht. Im Allgemeinen gelang es Mohammed, seinen Vater aufzuheitern. Während seiner Reise schien etwas geschehen zu sein, das ihn zutiefst beunruhigte.
Nachgiebig stieß Mohammed sich von der Brüstung ab und erfüllte den Wunsch seines Vaters, indem er sich ebenfalls einen der Sessel herbeiholte und sich Yussuf gegenüber niederließ. »Was ist so schlimm, dass es dir dein Lächeln geraubt hat?«
Das Lächeln, das Yussuf erneut versuchte, misslang kläglich. Als er sprach, war seine Stimme traurig, aber fest. »Mohammed, ich komme zurück von der Küste, wo ich einige Dinge geregelt habe, die ich aus Bequemlichkeit viel zu lange vor mir hergeschoben habe. Aber jetzt wird gepackt. Ich habe die Dienerschaft vorhin angewiesen, alles für die Reise vorzubereiten.«
Mohammed verstand nicht. Vielleicht wollte er auch nicht verstehen. »Reise? Welche Reise, Vater?«
Auf Yussufs Stirn erschien eine tiefe Falte, die nichts Gutes verhieß. »Mohammed, ich bitte dich! Ich weiß sehr wohl, dass ich keinen Dummkopf großgezogen habe, also stell dich nicht unwissender, als du bist! Du musst mitbekommen haben, dass die von den Spaniern bezeichnete Reconquista nicht beendet ist, sondern erneut aufflammt. Die diversen Besuche des Bischofs können dir nicht entgangen sein, und glaube mir, er kam nicht wegen unseres köstlichen Mokkas oder aus Freundschaft. Wenn er es früher einmal jährlich erwähnte, dass wir zum Christentum konvertieren sollten, so geschieht das jetzt jede Woche. Und es sind keine wohlmeinenden Ratschläge mehr, sondern vielmehr klare Aufforderungen mit der versteckten Drohung, dass wir andernfalls mit Konsequenzen zu rechnen haben.«
»Vater, das war doch schon immer so. Die Kirchenoberhäupter haben uns gedroht, und wir sind noch hier! Du allein hast über hundert Soldaten, die in deinen Diensten stehen. Wenn ich bedenke, dass das auf die meisten Familien auch zutrifft – wovor habt ihr solche Angst?«
Mit einer ruckartigen Bewegung stand Yussuf auf und ging unruhig wie ein gefangenes Tier im Käfig, auf und ab. Mohammeds Blick folgte seinem Vater und plötzlich wurde er gewahr, dass er ihn schon lange nicht mehr bewusst betrachtet hatte. Hätte er es getan, so wäre ihm bereits früher aufgefallen, wie sehr sich der stolze Sarazene verändert hatte.
Noch immer war Yussuf al Hassarin ein großer, würdevoller Mann, doch es schien, als würden Sorgen seine Schultern nach unten drücken. Sein Haar war voll und reichte ihm bis auf die Schultern, aber in den letzten Monaten war es zusehends ergraut. Kleine Furchen, die von Sorgen hineingegraben worden waren, die man nicht so einfach beiseiteschieben konnte, durchzogen sein schönes dunkles Gesicht.
Wenn er den Patriarchen nun ansah, schämte sich Mohammed, denn so sehr er auch glaubte, dass sein Vater übertrieb, so sehr liebte er ihn und es tat weh, ihn so zu sehen. Er überlegte, was er in dieser Situation Sinnvolles sagen könnte, um seinem Vater zu zeigen, dass er sich sehr wohl Gedanken machte. Nur leider fiel ihm überhaupt nichts ein, was daran liegen mochte, dass er sich tatsächlich noch nie im Leben über etwas ernsthaft Sorgen gemacht hatte. Also zog Mohammed es vor, zu schweigen, denn Yussuf al Hassarin noch mehr zu verärgern, das wollte er nicht.
»Du verkennst den Ernst der Lage«, fuhr dieser fort. »Wir alle sind hier nicht mehr sicher. Meine Freunde und ich beobachten die neue Entwicklung mit wachsender Sorge. Du sprichst von ›unseren Leuten‹ und ›meinen Soldaten‹ – Junge, wach auf! Die Hälfte ›unserer Leute‹ sind Christen. Sie würden uns ohne mit der Wimper zu zucken bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, wenn ihr Bischof sie dazu aufruft. Ist dir in letzter Zeit entgangen, dass Menschen spurlos verschwinden? Dass unbescholtene Leute der Ketzerei angeklagt werden? Wir haben ihrem Gott nichts getan und haben das auch nicht vor, nur leider interessiert sie das nicht. Mohammed, der Hass gegen uns wird gezielt geschürt. Der Hass der Armen, der Hass derer, die es zu nichts gebracht haben. Uns werden sie die Schuld für ihre Not geben. Glaub mir, mein Sohn, der Tag ist nicht fern, an dem sie auch die letzten von uns mit Feuer und Schwert vertreiben werden!«
Mohammed hatte dieser zornigen Ansprache seines Vaters ungläubig gelauscht und wollte ihm gerade antworten, als sie unterbrochen wurden.
Durch die offenen Türen des Balkons wirbelte laut lachend ein kleines Mädchen. »Bābā, endlich bist du wieder da! Du hast mir so gefehlt. Du hast versprochen, mich nicht zu lange allein zu lassen!«
Dank seiner ungebrochen schnellen Reaktionsfähigkeit fing Yussuf seinen Wirbelwind im Fluge auf. Kleine Staubwolken stiegen von seiner Kleidung auf, so heftig hatte das Kind sich in seine Arme geworfen. »Asma! Vorsicht, du wirfst mich alten Mann ja um! Das darfst du doch nicht tun!« Yussufs strahlende Augen angesichts seiner Jüngsten straften seine Worte Lügen. Asma war sein Sonnenschein, seine Prinzessin, sein Augenstern. Die Kleine war mit ihren schwarzen langen Locken, dem dunklen Gesichtchen und den dunkelbraunen Mandelaugen aber auch eine Augenweide! Ihre Arme umschlangen den Hals des Vaters so fest, dass dieser sie lächelnd etwas löste. »Ein klein wenig atmen muss sogar ich, meine Prinzessin.«
Das Kind zwirbelte schmollend die Locken, um sogleich wieder das Gesichtchen am Hals des Vaters zu vergraben. Gerade noch rechtzeitig schien ihm einzufallen, dass es ja eine Aufgabe hatte. Asma wandte sich an Vater und Bruder und verkündete mit ernster Miene: »Māmā lässt euch sagen, wenn ihr nicht gleich zu uns hinunter zum Essen kommt, dann lässt sie den Braten den Windhunden servieren, oh ja, das tut sie!«
Endlich gelang Yussuf das erste laute und unbeschwerte Lachen an diesem Tag. »Das wollen wir unter keinen Umständen riskieren. Wir kommen sofort. Los, lauf schon vor!«
Er setzte seine Tochter ab, und diese wirbelte in gewohnter Manier zurück ins Haus.
An Mohammed gewandt, meinte Yussuf: »Willst du das Leben dieses unschuldigen Kindes gefährden, nur weil du an alten Gewohnheiten und an einem Leben in Luxus festzuhalten gedenkst? Darüber solltest du einmal nachdenken, mein Sohn.«
Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern legte seinem Sohn einen Arm um die Schultern und die beiden Männer beeilten sich, dem Ruf der Hausherrin Folge zu leisten.