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Das Vierte Reich und die deutsche Nachkriegsgeschichte
ОглавлениеEine Historisierung des Vierten Reiches eröffnet neue Perspektiven auf die deutsche Nachkriegsgeschichte. Sie ist besonders nützlich, um die wichtigste »Meistererzählung« der Bundesrepublik zu überdenken. Wissenschaftler haben die deutsche Nachkriegsentwicklung im Allgemeinen als Erfolgsgeschichte dargestellt16 und diesen Erfolg auf verschiedene Faktoren zurückgeführt, darunter die auf Wiederaufbau ausgerichtete Besatzungspolitik der westlichen Alliierten, den durch das Wirtschaftswunder erzeugten Wohlstand, die Stabilität der von Bundeskanzler Konrad Adenauer verfolgten Westbindung und die heilsamen Auswirkungen einer allgemeinen »Modernisierung« des Landes. Politiker sind seit Langem davon überzeugt, dass Deutschland dank dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren zu einem leuchtenden Vorbild wurde – allen voran Bundeskanzler Helmut Schmidt, der 1976 den berühmten Wahlkampfslogan vom »Modell Deutschland« prägte.17 Das Narrativ »Erfolgsgeschichte« wurde auch in Museen wie dem Haus der Geschichte in Bonn institutionalisiert, dessen Dauerausstellung eine unmissverständliche Geschichte des Fortschritts von der Diktatur zur Demokratie präsentiert.18 Trotz dieses Konsenses bleiben einige Fragen jedoch umstritten. Wissenschaftler sind sich uneins, wann sich Deutschland nach dem Krieg endgültig stabilisierte; Konservative verweisen auf die Mitte der 1950er-Jahre, Linke auf die liberale »zweite Gründung« des Landes in den 1960er- und 1970er-Jahren.19 Weitgehend Einigkeit besteht jedoch, dass der Erfolg des Landes mit der deutschen Wiedervereinigung in den Jahren 1989–1990 besiegelt war. Zu diesem Zeitpunkt ging der deutsche Sonderweg schließlich zu Ende.20
Am Narrativ »Erfolgsgeschichte« ist grundsätzlich nichts auszusetzen, es hat dem Erfolg der Bundesrepublik allerdings manchmal den Schein der Unabwendbarkeit verliehen. Wenige Historiker haben dies explizit so formuliert, doch die Tendenz, die Demokratisierung des Landes als ununterbrochenen Fortschritt darzustellen, macht die These anfällig für bestimmte interpretatorische Fallstricke.21 Ein mögliches Problem sind Rückschaufehler oder hindsight bias. Dieser verbreitete Trugschluss nutzt unser Wissen über den Ausgang eines historischen Ereignisses, um es als überdeterminiert und im Wesentlichen unvermeidlich darzustellen; dabei reproduziert er die bekannten Probleme, die mit einem teleologischen Geschichtsverständnis oder einer Whig-Historiografie verbunden sind.22 Ein solches Beispiel ist die Rede von Bundespräsident Horst Köhler aus dem Jahr 2005, in der er den »Erfolg« der »demokratische[n] Ordnung« der Nachkriegszeit lobte. Seine Bilanz – »Im Rückblick zeigt sich: Alle diese Entscheidungen waren richtig«23 – war eindeutig von einem Rückschaufehler geprägt. Rückschaufehler stehen in engem Zusammenhang mit der ebenso problematischen Erzählstrategie des Backshadowing, bei dem historische Ereignisse, Entscheidungen und Phänomene so dargestellt und vor allem bewertet werden, als schritten sie unaufhaltsam zu unvermeidlichen Ergebnissen voran, die für Zeitgenossen hätten sichtbar »sein sollen«.24 Diese beiden Fallstricke hängen mit dem größeren Problem des »Präsentismus« zusammen.25 Die Tendenz, die Vergangenheit ausschließlich aus dem Blickwinkel der Gegenwart zu betrachten, bringt unweigerlich Verzerrungen der historischen Perspektive mit sich. Sie fördert deterministisches Denken, ignoriert die Existenz alternativer Entwicklungen und versäumt es, sich alternative Geschichtsverläufe vorzustellen.
In den letzten Jahren haben Historiker auf die vom Präsentismus geprägten Merkmale der Meistererzählung der deutschen Nachkriegszeit aufmerksam gemacht – und dies bezeichnenderweise aufgrund wichtiger Veränderungen in der aktuellen deutschen Lebenswirklichkeit. Das Erfolgsnarrativ erreichte in den Jahren vor und unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 seinen Höhepunkt – in einer Zeit, in der viele Deutsche die Nachkriegsentwicklung ihres Landes mit ungetrübtem Stolz betrachteten.26 Seit der Jahrtausendwende haben allerdings neue Sorgen angesichts wirtschaftlicher Stagnation, sozialen Abstiegs und kultureller Anomie Wissenschaftler dazu bewogen, das Narrativ »Erfolgsgeschichte« infrage zu stellen. Einige haben darauf gedrängt, die »Mythen« und »Schattenseiten« der Nachkriegszeit kritisch zu beleuchten.27 Andere haben die scheinbare Selbstverständlichkeit des deutschen Erfolgs beklagt und gefordert, den Schein der Unabwendbarkeit zu hinterfragen.28 Wieder andere haben die Paradigmen der »Verwestlichung«, »Modernisierung« und »Demokratisierung« als eine übertriebene Form der Whig-Historiografie kritisiert.29 Aus Sicht dieser Kritiker musste keine Errungenschaft der deutschen Nachkriegszeit zwangsläufig so eintreten. »[D]ie Verlaufsgeschichte der alten Bundesrepublik [war] eben kein Selbstläufer«, wie ein Beobachter erklärt hat.30
Doch während Historiker alternative Wege der deutschen Nachkriegsentwicklung eingeräumt haben, haben nur wenige untersucht, wie sich die Geschichte tatsächlich hätte entwickeln können. Nur wenige haben ausführlich darüber spekuliert, welche konkreten Alternativen es gab. Noch weniger haben sich gefragt, was ihre Folgen gewesen wären. Hätten andere Entscheidungen die Lage besser – oder schlimmer – gemacht?