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Das Vierte Reich historisieren
ОглавлениеDa es bislang wenig systematische Forschung über das Vierte Reich gibt, sind die meisten Menschen durch schlagzeilenträchtige Meldungen in den Massenmedien mit dem Thema in Berührung gekommen. Seit Jahrzehnten, vor allem aber seit der Jahrtausendwende, warnen europäische Zeitungen von Spanien bis Russland vor einem Vierten Reich – und keine häufiger als britische Boulevardzeitungen, die regelmäßig Geschichten mit reißerischen Schlagzeilen wie »MI5-Akten: Nazis planten ›Viertes Reich‹ in Nachkriegseuropa« und »Anbruch des Vierten Reiches: Warum Geld neue Ängste vor einer deutschen Dominanz in Europa schürt« veröffentlichten.3 Ähnliche Geschichten sind vor allem seit der Wahl von Donald Trump 2016 in der amerikanischen Presse zu beobachten; ein Journalist hat unlängst dramatisch erklärt, die Bemühungen linker »Antifa«-Gruppen zur Bekämpfung der »Alt-Right«-Bewegung seien Teil einer größeren Kampagne zur »Verhütung … eines Vierten Reiches«.4 Diesen sensationsheischenden Trend befördert haben nichtwissenschaftliche Studien, die die Vorstellung eines Vierten Reiches mit verschiedenen globalen Verschwörungen in Verbindung gebracht haben. Bücher wie Jim Marrs’ The Rise of the Fourth Reich: The Secret Societies That Threaten to Take Over America (2008) und Glen Yeadons The Nazi Hydra in America: Suppressed History of a Century – Wall Street and the Rise of the Fourth Reich (2008) haben haarsträubende Behauptungen aufgestellt und wenig dafür getan, dem Anspruch des Themas auf Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden.5
Die starke Zunahme solch sensationsheischender Texte ist ein Grund dafür, dass Historiker eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Vierten Reich gescheut haben. Das soll nicht heißen, dass sie sich ihr gänzlich entzogen haben. Tatsächlich haben Wissenschaftler und andere Autoren Monografien, Zeitschriftenaufsätze und Gastkommentare mit plakativen Überschriften publiziert, in denen der Ausdruck »Das Vierte Reich« an prominenter Stelle erscheint.6 Doch nach diesem verheißungsvollen Auftakt haben diese Werke es in der Regel versäumt, den Gedanken tiefer gehend zu erklären und zu zeigen, wie er wahrgenommen, verwendet und instrumentalisiert wurde. An ähnlichen Mängeln kranken wissenschaftliche Studien, die den Gedanken des Vierten Reiches zwar erwähnen, aber nicht ausreichend definieren. In ihrem Buch A History of Germany 1918–2008 behauptet Mary Fulbrook zum Beispiel: »Viele Deutsche sahen die Besatzung durch die Alliierten als ›Viertes Reich‹, das nicht besser als das Dritte war.«7 Ähnlich erklärt Magnus Linklater in seiner Studie The Nazi Legacy, nach 1945 habe »das deutsche Volk, völlig erschöpft von Krieg und Politik, nur ans Überleben gedacht: ein Kilo Kartoffeln … war wichtiger als Träume von einem Vierten Reich.«8
In diesen beiden Passagen kommen sehr unterschiedliche Auffassungen eines Vierten Reiches zum Ausdruck, doch da sie das Konzept nicht weiter vertiefen, bleibt seine Bedeutung unklar.9 Erschwerend kommt hinzu, dass manche Historiker den Begriff grundsätzlich ablehnen. In seinem Buch The Third Reich at War erklärt Richard Evans rundheraus: »die Geschichte wiederholt sich nicht. Es wird kein Viertes Reich geben.«10 Ähnlich tat Roger Griffin in The Nature of Fascism »Ängste … [vor] einem Vierten Reich in Deutschland« als »hysterisch« ab.11 Und in The Spirit of the Berlin Republic kam Dieter Dettke zu dem Schluss: »[E]s ist unvorstellbar, dass die Berliner Republik je zu einem Vierten Deutschen Reich wird.«12 Diese lapidaren Reaktionen sind angesichts der sensationsgierigen Beschwörungen des Begriffs verständlich. Da sie ihm allerdings jegliche Ernsthaftigkeit absprechen, verhindern sie Bemühungen, seiner tieferen Geschichte auf den Grund zu gehen.
Angesichts der mangelnden Theoretisierung und ungenügenden Dokumentation des Vierten Reiches ist es höchste Zeit für eine Historisierung. Diese erfordert eine Klärung der Herkunft des Begriffs und ein Nachzeichnen seiner Entwicklung im geistigen, politischen und kulturellen Diskurs des Westens. Dabei ist zu untersuchen, welche Erscheinungsformen das Vierte Reich in der Vorstellung von Intellektuellen, Politikern, Journalisten, Schriftstellern und Filmemachern angenommen hat. Es gilt zu klären, wie die Entwicklung der Idee breitere politische und kulturelle Kräfte widerspiegelt. Und es gilt zu verstehen, wie der Begriff mit umfassenderen Fragen der Geschichte und der Erinnerung verknüpft ist.