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Kontrafaktische Geschichte

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Um diese spekulativen Fragen zu beantworten, ist kontrafaktisches Denken hilfreich. In den letzten Jahren haben sich Geistes- und Sozialwissenschaftler in ihrer Forschung zunehmend mit »Was wäre, wenn?«-Fragen beschäftigt. Sie haben umfassende »kontrafaktische Szenarien im Langformat« entwickelt, um Spekulationen über so unterschiedliche Themen wie Darwins Evolutionstheorie, den Ersten Weltkrieg und den Holocaust anzustellen.31 Sie haben »kontrafaktische Szenarien mittlerer Länge« in Darstellungen des Aufstiegs des Westens, der Aufklärung und der Diktatur Josef Stalins eingeflochten.32 Und sie haben knappe »kontrafaktische Szenarien im Kurzformat« zu einer Vielzahl anderer Themen entwickelt. Wissenschaftler haben dabei eine Sicht hinterfragt, nach der sich Geschichte nur auf tatsächlich geschehene Ereignisse bezieht, und haben stattdessen Ereignisse untersucht, die nie stattgefunden haben. Sie haben »Fantasieszenarien« entwickelt, um zu zeigen, wie die Dinge hätten besser verlaufen können; sie haben »Albtraumszenarien« durchgespielt, um zu zeigen, wie die Dinge hätten schlechter ausgehen können; und sie haben sich »Stillstandsszenarien« ausgemalt, um zu zeigen, wie die Geschichte letztlich so ablaufen musste, wie sie es tat. Bei all diesen Überlegungen haben sie verschiedene rhetorische Strategien gewählt, um Leser von der Plausibilität ihrer Szenarien zu überzeugen. Sie haben kausale, emotive, zeitliche, räumliche, existenzielle und manieristische kontrafaktische Überlegungen angestellt, um ihre Leser sowohl emotional als auch rational anzusprechen.33

Diese neuere Forschung macht deutlich, dass kontrafaktisches Denken für ein Verständnis historischer Kausalität unerlässlich ist. Jeder hergestellte Kausalzusammenhang enthält bereits ein Kontrafakt: Wenn wir zum Beispiel sagen: »x führte zu y«, unterstellen wir implizit, dass »y nicht ohne x eingetreten wäre«.34 Kontrafaktische Überlegungen können uns außerdem helfen, zwischen verschiedenen Kausalitätsebenen zu unterscheiden: zwischen unmittelbaren, mittelbaren und entfernten, zwischen außergewöhnlichen und allgemeinen sowie zwischen notwendigen und hinreichenden Ursachen.35 Gewiss kann es schwierig sein, zwischen der relativen Bedeutung solcher Ursachen zu unterscheiden, doch wie Max Weber vor mehr als einem Jahrhundert erklärt hat, können wir die Bedeutung eines einzelnen Faktors für die Entstehung eines historischen Ereignisses nur bestimmen, wenn wir Ersteres in unserer Vorstellung eliminieren (oder ändern) und darüber spekulieren, wie sich dies auf Letzteres auswirken würde.36 Wenn wir die Beziehung zwischen Ereignissen aufdecken, die tatsächlich und niemals stattgefunden haben, helfen uns Kontrafakte, den jeweiligen Einfluss von Kontingenz und Determinismus in historischen Ereignissen zu bestimmen. Kontrafakte gestatten uns, teleologische Geschichtsauffassungen – insbesondere die verzerrenden Folgen von Rückschaufehlern und Backshadowing – zu überdenken und alternative Geschichtsverläufe aufzuzeigen.37 Letztlich bietet kontrafaktische Geschichte Historikern auf der Suche nach dem flüchtigen Ideal historischer Wahrheit einen neuen und wichtigen Pfeil in ihrem methodischen Köcher. Skeptiker mögen bezweifeln, ob die Erforschung von nie eingetretenen Ereignissen uns diesem Ideal näherbringen kann. Doch wie schon John Stuart Mill vor langer Zeit betonte, gewinnen wir eine »deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht«.38 Ähnlich können wir das tatsächliche Geschehen in der Vergangenheit besser verstehen, wenn wir es mit dem vergleichen, was hätte passieren können.

Diesen unkonventionellen Weg einzuschlagen, ist nicht nur lohnend, sondern gerade zum jetzigen Zeitpunkt von großer Bedeutung. Wir leben in einer Zeit, die zu kontrafaktischem Denken neigt. Spekulatives Denken floriert in Zeiten rasanter Veränderungen. Während orthodoxe Auffassungen der Vergangenheit in Zeiten der Stabilität leicht zu vertreten sind, gewinnen revisionistische Herausforderungen in Zeiten des Umbruchs an Zulauf. Es ist leicht, den Kurs der Geschichte als gegeben hinzunehmen – ihn als deterministisch vorbestimmt wahrzunehmen –, wenn die bestehende Ordnung nicht durch drohende Alternativen in Gefahr ist. Bricht der Status quo jedoch angesichts neuer Kräfte zusammen, rücken alternative Entwicklungspfade immer deutlicher in den Fokus.39 Das aktuelle Interesse an Kontrafakten spiegelt diesen Trend wider. Obwohl »Was wäre, wenn?«-Überlegungen während des Kalten Krieges keineswegs unbekannt waren, nahmen sie nach seinem Ende rapide zu. Das Ende der vergleichsweise stabilen, bipolaren Welt führte zu einer neuen Ära der Unsicherheit, die von unerwarteten Krisen geprägt war. Diese Krisen begannen in den 1990er-Jahren mit dem jugoslawischen Bürgerkrieg, verschärften sich nach der Jahrtausendwende mit dem globalen »Krieg gegen den Terror« und erreichten mit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 und dem Aufstieg von Rechts- und Linkspopulismus einen Höhepunkt. All diese Entwicklungen erschütterten frühere Gewissheiten – insbesondere die Wirksamkeit des Kapitalismus und die Unvermeidbarkeit der Demokratie – und nährten den Hang zu Spekulationen, wie die Vergangenheit und die Gegenwart hätten anders ausfallen können.40

Das Vierte Reich

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