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Kontrafakte und die deutsche Nachkriegsgeschichte

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Dieses neue Klima hat die Sicht der deutschen Nachkriegsgeschichte geprägt. Bis vor Kurzem wurde die Gültigkeit des Narrativs »Erfolgsgeschichte« der Bundesrepublik als mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen. Als sich das Narrativ in den Jahren vor dem 40. Jahrestag der Bundesrepublik 1989 verfestigte, gab es wenig Grund, das Bekenntnis der Bundesrepublik zur Demokratie und zum westlichen Bündnis infrage zu stellen; nach Francis Fukuyamas Thesen über den unvermeidlichen Triumph des Liberalismus, der die Demokratisierung von Nachkriegsdeutschland ebenso unvermeidlich erscheinen ließ, gab es in der Euphorie nach der Wiedervereinigung 1990 sogar noch weniger Grund, an diesem Bekenntnis zu zweifeln.41 Die zunehmende Unsicherheit in der heutigen Welt hat diese deterministische Sicht jedoch ins Wanken gebracht. Sie hat darüber hinaus dazu beigetragen, die Unsicherheiten der frühen Nachkriegszeit besser beurteilen zu können. Da zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches (2018) die Auswirkungen des »Krieges gegen den Terror«, die Zukunft der Post-Brexit-EU oder das Schicksal der Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump nicht absehbar sind, können wir besser die Sorgen und Nöte der Menschen verstehen, die nach 1945 eine Gefahr für die junge deutsche Demokratie in Form eines Vierten Reiches befürchteten. Da wir uns des kontingenten Wesens unserer eigenen Welt bewusst sind, stellen wir eher »Was wäre, wenn?«-Szenarien über die Nachkriegszeit an.

Es mag ungewöhnlich erscheinen, über Ereignisse zu spekulieren, die hätten geschehen können, doch haben deutsche Wissenschaftler das Potenzial eines solchen Unterfangens längst erkannt. Schon vor einer Generation behauptete Hans-Peter Schwarz, die deutsche Nachkriegsgeschichte lasse sich nutzbringend durch das Konzept der »ausgebliebenen Katastrophe« erklären.42 Durch eine Untersuchung dessen, was nicht geschah, könnten Historiker das Geschehene besser verstehen, so Schwarz, warum nämlich die deutsche Nachkriegsgeschichte letztlich so stabil verlief. Andere Wissenschaftler haben diese These aufgegriffen und für eine »imaginäre Geschichte« der Bundesrepublik plädiert – eine Geschichte »vom Ausbleiben des Erwarteten«.43 Bislang haben jedoch nur wenige einen größeren Beitrag zu dieser Geschichte geleistet.

Wie könnte dies geschehen? Zunächst einmal hilft es, die deutsche »Erfolgsgeschichte« der Nachkriegszeit aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Während die meisten Historiker den Erfolg des Landes im Allgemeinen mit Blick auf das erklären, was gut verlief, können wir uns stattdessen auf das konzentrieren, was nicht schiefgelaufen ist; anstatt die Gründe für den Erfolg Deutschlands zu untersuchen, können wir uns darauf konzentrieren, warum es nicht scheiterte. Kurz gesagt: Wir können untersuchen, warum die Bundesrepublik nie in ein Viertes Reich abglitt. Die deutsche Nachkriegsgeschichte in einen solchen Deutungsrahmen zu stellen, ist keine Frage nebulöser Begrifflichkeiten. Vielmehr geht es darum, zwei Seiten eines Kausalzusammenhangs aufzuzeigen. Historische Ereignisse ergeben sich in der Regel aus dem Zusammenspiel bestehender »Systeme« und äußerer »Kräfte«.44 Je stabiler das System, desto schwieriger ist es für eine äußere Kraft, es zu beeinflussen; je weniger stabil das System, desto leichter ist es für eine äußere Kraft, es zu beeinflussen. Historiker haben sich dieser Argumentation häufig bedient, um den Aufstieg der Nationalsozialisten zu erklären. Heinrich August Winkler zum Beispiel ist der Ansicht, Hitler sei an die Macht gekommen, »nicht weil die Nationalsozialisten … so zahlreich gewesen wären, sondern weil es nicht genug Demokraten gab, die [die Weimarer Republik] zu verteidigen bereit gewesen wären«.45 Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte der Bundesrepublik befasst haben, haben ihren Fokus ebenfalls auf das bestehende »System« und nicht auf oppositionelle »Kräfte« gerichtet und es vorgezogen, die den Nachkriegsstaat stabilisierenden politischen Maßnahmen zu untersuchen, anstatt sich nationalsozialistischen Angriffen auf ihn zu widmen.46

Diese Tendenz spiegelt die weitverbreitete Überzeugung wider, der Nationalsozialismus sei in Nachkriegsdeutschland eine extrem schwache Kraft gewesen. Bereits in den 1950er-Jahren betonten Journalisten, es sei unmöglich, in der Bundesrepublik »den nationalsozialistischen Leichnam wiederzubeleben«; in den 1960er-Jahren taten Historiker die »Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse von 1933« zuversichtlich als Unsinn ab.47 Viele junge Wissenschaftler haben ähnliche Thesen aufgestellt und erklärt, der Nationalsozialismus sei nach 1945 als politische Tradition »zerschlagen« worden; er sei als Bewegung »völlig gescheitert« und habe »nie eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie in Westdeutschland dargestellt«.48 Da der Nationalsozialismus nach 1945 nur noch isolierte »Spinner« angesprochen habe, habe »eine antidemokratische Rechte in der Bundesrepublik keine Chance« gehabt.49

Diese Feststellungen sind zwar zutreffend, wurden aber aus der Rückschau verfasst und vernachlässigen Fälle nach 1945, in denen nationalsozialistische Kräfte die deutsche Demokratie zu stürzen drohten. Zu entsprechenden Bestrebungen kam es erstmals in der Besatzungszeit, als fanatische Werwolf-Rebellen, ungeläuterte Hitlerjugendführer, engagierte SS-Männer und ungebrochene Wehrmachtsveteranen verschwörerische Kampagnen gegen die Errichtung einer demokratischen Ordnung starteten. In den ersten Jahren der Kanzlerschaft Konrad Adenauers, von 1949 bis in die frühen 1950er-Jahre, keimten angesichts des Aufstiegs der Sozialistischen Reichspartei (SRP) und der Aufdeckung der berüchtigten »Gauleiter-Verschwörung« unter Leitung des ehemaligen Stellvertreters des Nazipropagandaministeriums Werner Naumann Ängste vor einer »Renazifizierung« auf. Bald darauf gab der Ausbruch der »Schmierwelle« von 1959 bis 1960 Sorgen über das Fortbestehen von Nazianhängern in Westdeutschland neue Nahrung, wie es auch der Aufstieg der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in den Jahren 1964–1969 tat. In den 1970er- und 1980er-Jahren schürte das Auftreten rechtsextremer Demagogen wie Manfred Roeder und Michael Kühnen die Angst vor einem wiederaufflammenden Nationalsozialismus. Und in den Jahrzehnten nach der deutschen Wiedervereinigung wurden Sorgen um den wachsenden Rechtsextremismus durch den Aufstieg neonazistischer Skinheadgruppen und Organisationen der neuen Rechten befeuert, die mit Hans-Dietrich Sanders Zeitschrift Staatsbriefe, dem Deutschen Kolleg und der Reichsbürgerbewegung in Verbindung standen.

Historiker sind mit all diesen Bewegungen vertraut und haben sie in unterschiedlicher Ausführlichkeit untersucht. Die Beziehung dieser Bewegungen zur Idee eines Vierten Reiches haben sie jedoch übersehen. Dieses Versäumnis ist überraschend, wenn man bedenkt, dass sich sowohl Befürworter als auch Gegner häufig auf ein Viertes Reich beriefen. In der gesamten Nachkriegszeit setzten sich Nationalsozialisten und andere rechtsradikale Aktivisten nachdrücklich für die Schaffung eines neuen Reiches ein und nutzten den Begriff als Kampfbegriff und Ansporn für ihre Anhänger. Ihre Kritiker im In- und Ausland malten unterdessen das Schreckensbild eines Vierten Reiches an die Wand, um öffentlichen Widerstand zu mobilisieren. Diese Begriffsverwendung im politischen Diskurs der Nachkriegszeit empirisch zu dokumentieren, ist der erste Schritt in Richtung einer Geschichtsschreibung des Vierten Reiches. Der zweite Schritt – eine Interpretation des Begriffs – ist ebenso wichtig, aber schwieriger. Sämtliche nationalsozialistischen Bemühungen zur Schaffung eines Vierten Reiches sind bekanntlich gescheitert. Um die Gründe hierfür jedoch vollständig zu verstehen, müssen wir uns fragen, wie nah sie dem Erfolg kamen.

Kontrafaktisches Denken und die Untersuchung von Szenarien, in denen die Geschichte sich hätte anders entwickeln können, helfen, diese wichtige Frage zu beantworten. Gewiss ist dies eine methodische Herausforderung, da es natürlich unmöglich ist, Ereignisse zu beweisen oder zu widerlegen, die nie stattgefunden haben. Wenn wir kontrafaktische Szenarien jedoch verantwortlich und unter Berücksichtigung ihrer Plausibilität untersuchen, können wir sicherstellen, dass die Aufgabe der Spekulation nicht von einem Übermaß an Fantasie überwältigt wird. Dies macht es unter anderem erforderlich, verschiedene Abweichungen von der etablierten Geschichtsschreibung zu postulieren und sich ihre unterschiedlichen Konsequenzen vorzustellen. Kontrafaktisches Denken muss jedoch kein rein subjektives Unterfangen sein. Die umfangreiche Sekundärliteratur zur deutschen Nachkriegsgeschichte enthält überraschend viele kurze kontrafaktische Behauptungen von Wissenschaftlern, die auch dazu verwendet werden können, »Was wäre, wenn?«-Fragen zu beantworten. Neue und alte spekulative Aussagen zu synthetisieren, ist eine Herausforderung, die jedoch die Mühe lohnt. Denn eine Untersuchung der Umstände, unter denen die Bundesrepublik nur knapp einem Vierten Reich entging, eröffnet eine neue Sicht auf die Gründe für die Nachkriegsstabilität des Landes.

Wenn wir uns vorstellen, wie die Geschichte anders hätte verlaufen können, können wir weiter der wichtigen Frage nachgehen, ob die Nachkriegsängste vor einem Vierten Reich gerechtfertigt waren. Genau genommen beantwortet sich die Frage von selbst. Da die Nationalsozialisten ihre Ziele nach 1945 nie erreichten, scheinen die Ängste vor einem Vierten Reich übertrieben. Es wäre freilich falsch, sie als völlig unbegründet abzutun. Dies würde erstens die größte Schwäche des Narrativs »Erfolgsgeschichte« widerspiegeln und fortschreiben – die Unterstellung nämlich, dass die Demokratisierung Deutschlands nach dem Krieg mehr oder weniger unvermeidlich gewesen sei. Heute kennen wir das Ende der dramatischen Geschichte des deutschen Wiederaufbaus nach der militärischen Niederlage. Aber, was heute eine abgeschlossene Vergangenheit ist, lag einst in der Zukunft. In den Jahren nach 1945 war das deutsche Nachkriegsnarrativ noch offen, was in der gesamten westlichen Welt für Unruhe sorgte. Wenn wir uns in die Lage von Zeitgenossen versetzen und ihre Ängste ernst nehmen, können wir die das Zeitgeschehen prägenden Faktoren besser verstehen. Ängste sind seit Langem eine aktive Kraft in der Geschichte. Wie die verschiedenen Formen des Instrumentalisierens von Ängsten vor einer drohenden Revolution durch moderne politische Bewegungen wie den Konservatismus im 19. Jahrhundert oder den Faschismus im 20. Jahrhundert zeigen, haben Ängste vor möglichen zukünftigen Ereignissen oft das tatsächliche Geschehen geprägt.50 Einige Historiker haben sich bemüht, diese Erkenntnisse auf die Bundesrepublik anzuwenden, und haben gefordert, die Nachkriegsgeschichte des Landes als »Geschichte der Ängste« zu schreiben.51 Andere haben versucht, zu erklären, warum die Intensität dieser Ängste in keinem Verhältnis zur realen Stabilität des Landes stand.52 Ausgehend von diesen Ansätzen, können wir die Legitimität der Nachkriegsängste vor einem Vierten Reich gewinnbringend beurteilen.

Das Vierte Reich

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