Читать книгу Das Vierte Reich - Gavriel Rosenfeld - Страница 7

Einleitung

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Die Wälder des Taunus wurden von einer dunklen Menschenmenge überflutet …

Nach Einbruch der Dunkelheit flackerten in regelmäßigen Abständen Feuer entlang des Hügels auf. Jedes Mal, wenn ein neues Licht die Dunkelheit durchdrang, dröhnten Tausende von Lautsprechern: »Das Ziel ist in Sicht.« Viele waren in »festliche Hirtengewänder« gekleidet und trugen prunkvolle Abzeichen. Zahlreiche Uniformen ähnelten denen der ehemaligen Wehrmacht, nur dass das Hakenkreuz durch einen Hirtenstab mit einem Band ersetzt worden war, dessen Enden von Taubenschnäbeln gehalten wurden.

Zehn Minuten vor Mitternacht erschien Friedolin auf einer Lichtung, auf der ein Holzstapel vorbereitet worden war. Er wurde begleitet von den Hirten, fünf Generalfeldmarschällen, zwei Großadmiralen und einem General der Luftwaffe …

Auf der Lichtung warteten einige Hundert Ehrengäste – Deutsche und Ausländer …

Ein Generalfeldmarschall hielt ein silbernes Mikrofon. Tausende von Lautsprechern übertrugen Friedolins gellenden Schrei: »Das Vierte und Ewige Reich ist in Sicht!«

Dann ging der Holzstapel auf der Lichtung in Flammen auf. Die Menschenmasse brüllte; die Macht braute sich wie eine Gewitterwolke zusammen. 1

Als sich der Zweite Weltkrieg im Herbst 1944 seinem Ende zuneigte, veröffentlichte der in den USA lebende österreichische Schriftsteller Erwin Lessner den dystopischen Roman Phantom Victory, der einer wachsenden Angst vieler Menschen im englischsprachigen Raum Ausdruck gab. Der Roman spielt in den Jahren 1945–1960, in seinem Mittelpunkt steht ein einfacher, aber charismatischer Hirte namens Friedolin, der Adolf Hitler als neuen Führer Deutschlands ablöst und das Land in einen erneuten Kampf um die Weltmacht führt. Phantom Victory spiegelte die wachsende Sorge wider, die Gefahren der jüngsten Vergangenheit könnten sich in naher Zukunft wiederholen. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens trieben die Alliierten die Wehrmacht rasch wieder auf deutschen Boden zurück. Das Ende des Romans deutet allerdings darauf hin, dass militärische Stärke allein kein Garant für einen endgültigen Sieg sein könne. Wenn die Alliierten nicht wachsam blieben und ein Wiederaufleben nationalsozialistischen Gedankenguts verhinderten, könnte sich die bevorstehende Niederlage des Dritten Reiches als Schimäre – als »Phantomsieg« – erweisen und den Aufstieg eines noch tödlicheren Vierten Reiches nach sich ziehen.

Als einer der ersten artikulierte Lessners Roman eine Angst, die über der gesamten Nachkriegszeit lag. Seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 geht ein Gespenst im Westen um – das Gespenst eines wiedererstarkenden Nationalsozialismus. In Europa und Nordamerika besteht noch immer die Angst, unbeirrbare Nazis könnten erneut an die Macht kommen und ein Viertes Reich gründen. Diese Ängste kommen nicht nur in Romanen wie dem von Lessner, sondern auch in politischen Jeremiaden, journalistischen Enthüllungsgeschichten, Mainstreamfilmen, Primetimesendungen und beliebten Comics zum Ausdruck. Sie malten sich eine Reihe von Gefahren aus – Staatsstreiche, Terroranschläge und militärische Invasionen –, die von unterschiedlichen Orten ausgingen – unter anderen in Deutschland, Lateinamerika und den Vereinigten Staaten. Die Angst vor einem Vierten Reich schwankte im Lauf der Jahre, nahm in bestimmten Phasen zu und ebbte in anderen ab. Doch der imaginierte Albtraum trat nie ein. Die Aussicht auf ein wiederbelebtes Reich ist bislang eine Fiktion geblieben.

Eine Untersuchung der Geschichte des Vierten Reiches mag auf den ersten Blick sinnlos erscheinen. Schließlich wird Geschichte allgemein als die Dokumentation und Interpretation von tatsächlich eingetretenen Ereignissen verstanden. Doch wie Hugh Trevor-Roper vor über einer Generation beredt bemerkte, »ist Geschichte nicht nur das, was geschah: Es ist das, was im Zusammenhang mit dem, was hätte geschehen können, geschah.«2 Fakt ist, dass in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein Viertes Reich entstand. Aber hätte es entstehen können? Kann die Reflexion über eine solche kontrafaktische Frage uns etwas über die reale Geschichte lehren? Durchaus, wie ich in diesem Buch zu zeigen hoffe.

Aus heutiger Sicht erscheinen die Ängste der Nachkriegszeit vor einem Vierten Reich maßlos übertrieben. Deutschland glitt nach 1945 nicht in eine Diktatur ab, sondern wurde zu einer stabilen Demokratie. Es ist deshalb völlig angemessen, die deutsche Nachkriegsgeschichte als Erfolgsgeschichte zu betrachten. Diese Sicht läuft jedoch Gefahr, die Demokratisierung des Landes als mehr oder weniger unvermeidlich darzustellen. Sie impliziert, dass ein Viertes Reich dazu bestimmt war, ein unerfüllter Albtraum zu bleiben. Inwieweit diese Behauptung der Wahrheit entspricht, ist schwer zu sagen. Bislang gibt es wenig seriöse Forschung zum Thema Viertes Reich. Unter Historikern besteht deshalb weitgehende Unkenntnis über seine komplexe Nachkriegsgeschichte. Historiker haben im Allgemeinen verkannt, dass ein drohendes neues Reich in jeder Phase des Bestehens der Bundesrepublik in der gesamten westlichen Welt Ängste auslöste. Sie haben es versäumt, die Gründe für diese Ängste zu untersuchen. Und sie haben es versäumt, die Frage zu stellen – oder gar zu beantworten –, ob diese Ängste auf Fakten beruhten. Dieses Versäumnis ist besonders problematisch, denn nach 1945 gab es nicht wenige Vorfälle, bei denen nationalsozialistische Gruppen, die sich eine Rückkehr an die Macht erhofften, eine ernste Gefahr in Deutschland darstellten. All diese Versuche verliefen letztlich im Sand. Aber es lohnt sich, zu untersuchen, ob sie hätten gelingen können. Wenn wir diese Vorfälle noch einmal durchspielen und uns Szenarien vorstellen, in denen sie sich möglicherweise anders entwickelt hätten, können wir die Berechtigung der Nachkriegsängste besser beurteilen.

Betrachten wir die Geschichte dessen, was hätte passieren können, können wir außerdem die Erinnerung an das tatsächliche Geschehen besser verstehen. Die Entwicklung der Idee eines Vierten Reiches im Geistes- und Kulturleben der Nachkriegszeit des Westens zeigt, wie sich Menschen an die zwölfjährige Geschichte des Dritten Reiches erinnern. Diese Entwicklung spiegelt jedoch nicht nur wider, wie sich die Menschen passiv an die Ereignisse der Vergangenheit erinnert haben. Sie zeigt, wie sie diese Erinnerungen aktiv zur Gestaltung der Zukunft genutzt haben. Die Angst vor einer Rückkehr der Nationalsozialisten an die Macht befeuert seit Langem die öffentlichen Bemühungen zur Verhinderung eines solchen Ereignisses. Die Angst hat die Menschen aufgerüttelt, ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu verhindern. Im Lauf der Nachkriegszeit hat sich das Vierte Reich zu einer globalen Chiffre für einen wiederaufflammenden Nazismus und Faschismus entwickelt. Der Gedanke fungiert dabei wie eine umgekehrte sich selbst erfüllende Prophezeiung. Seine Existenz in der Ideenwelt hat die Menschen zur Wachsamkeit gemahnt und so seine Verwirklichung in der realen Welt verhindert. Um dieses Paradoxon zu erkennen und zu begreifen, wie ein Gespenst die Nachkriegsgeschichte geprägt hat, ist es notwendig, die Ursprünge und die Entwicklung des Vierten Reiches im Bewusstsein des Westens zu untersuchen.

Das Vierte Reich

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