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Nach 1933: Das Vierte Reich in ausländischer Inkubation
ОглавлениеEs ist nicht bekannt, wie viele Leser van Emsens Buch fand, doch nach 1933 bot es Nazigegnern einen bleibenden Slogan. Deutsche Emigranten waren die Ersten, die die Vorstellung eines Vierten Reichs beförderten. Ein früher Vertreter dieser Bemühungen war der bayerische Adlige und Katholik Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906–1984). Wissenschaftlern zufolge warb Löwenstein in mehreren Büchern, die er nach seiner Übersiedlung nach Los Angeles 1933 verfasste, für die Idee eines »postnazistischen Vierten Reiches«.67 Löwenstein war ein wichtiger Akteur in deutsch-amerikanischen Kreisen, er war Mitbegründer der »Hollywood Anti-Nazi League« 1936 und verfasste zahlreiche Bücher zur Förderung eines zukünftigen Reiches. Allerdings bezeichnete er sein zukünftiges Deutschland nie als Viertes Reich, sondern betrachtete es vielmehr als ein reformiertes Drittes Reich. In seinem Buch Nach Hitlers Sturz: Deutschlands kommendes Reich (1934) machte Löwenstein von Anfang an deutlich, dass »wir nach dem Zusammenbruch des gegenwärtigen Pseudo-Reichs für das wahre Kommende Dritte Reich bereit sein müssen, das heißt auf die dritte historische Inkarnation der abendländischen Idee in einem Volk«.68 In seiner Begründung für diesen zukünftigen Staat verfolgte Löwenstein die Idee des Reiches bis ins antike Rom zurück und definierte sie platonisch als Vorstellung einer »europäischen Kulturgemeinschaft«, die einer Vision von »universeller Verantwortung gegenüber der Menschheit« verpflichtet sei. Wie das Heilige Römische Reich sah es sich der christlichen Idee von »Dienst und Liebe« verpflichtet,69 was erklärte, warum das Dritte Reich der Nazis »keine Verbindung zu ihm hat«, da »die Idee des Reiches niemals dort verwirklicht werden kann, wo Gewalt herrscht … [und] Freiheit und Gerechtigkeit zerstört wurden.«70 Das kommende Reich war also eine geistige Idee, die auf der »universellen Brüderlichkeit des Menschen« beruhte.71 Wie schon Moeller van den Bruck bei seiner Vorstellung vom Dritten Reich glaubte Löwenstein, dass Deutschland bei seiner Entstehung »eine besondere Rolle zu spielen« habe. So wie das Land das Heilige Römische Reich tausend Jahre lang geführt habe, sei Deutschland dafür verantwortlich, die zentrale Idee des Reichs – »den Inhalt des Abendlandes« – zu bewahren, den Grundstein aus Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu legen und damit der Zukunft Europas zu dienen.72
Im Gegensatz zum konservativen Löwenstein entstammten andere Befürworter des Vierten Reiches dem linksliberalen Flügel des politischen Spektrums. Einer der entschiedensten Verfechter war der Journalist und ehemalige SPD-Reichstagsabgeordnete Georg Bernhard. Er übersiedelte 1933 nach Paris, wo er Mitbegründer der großen deutschen Exilzeitung, des Pariser Tageblatts, war. Als Chefredakteur bekräftigte Bernhard den Anspruch des Blattes, »eine scharfe geistige Waffe der im Ausland lebenden Deutschen gegen die Unkultur des Dritten Reiches zu sein«.73 Seine Arbeit bestand vor allem darin, die Westmächte vor den aggressiven außenpolitischen Zielen der Nazis zu warnen und die »Lüge zu enthüllen«, auf die sich die NS-Propaganda stützte. Bernhard sah sich jedoch auch als Teil einer vertriebenen »intellektuellen Avantgarde«, die seiner Ansicht nach eine politische Alternative zum Nationalsozialismus formulieren konnte.74 In den Jahren 1935–1937 beteiligte er sich mit anderen führenden Emigranten, darunter Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Konrad Heiden, an größeren, von den Kommunisten finanzierten Bemühungen, linke und liberale Kräfte in einer antinazistischen Volksfront zusammenzuführen.75 Im Rahmen dieser Bemühungen wurden Bernhard und sein Kollege Leopold Schwarzschild in einen Unterausschuss, den sogenannten Lutetia-Kreis, berufen, wo sie aus eigener Initiative an Verfassungsentwürfen für ein neues Deutschland arbeiteten.76
Bezeichnenderweise apostrophierte Bernhard seine Version als »Entwurf einer Verfassung für das Vierte Reich«.77 Das sehr detaillierte Dokument war in seinen Grundsätzen liberal und der »Gewissensfreiheit« sowie der »Gleichheit der Angehörigen aller Klassen und Rassen« verpflichtet. Darüber hinaus versprach es die »Austilgung aller Spuren der menschenunwürdigen Barbarei« des Dritten Reiches aus dem zukünftigen Staat und erklärte: »Es darf niemand ein öffentliches Amt im Vierten Reich führen, der leitend in der Nationalsozialistischen Partei oder ihren Nebenorganisationen tätig war.«78 Das Dokument enthielt zahlreiche Einzelheiten über die Neuordnung von Militär, Bürokratie, Justiz, Schulsystem und Wirtschaft. Gemeinsames Element all dieser Empfehlungen war eine Ablehnung von Gewalt. »Das Vierte Reich ist das Reich des Friedens«, schrieb Bernhard, das »alle Bestrebungen alldeutscher Art« sowie eine »Kolonialpolitik« als »verbrecherisch« ablehne. Stattdessen verpflichtete es sich zu »Demokratie und Gleichheit weltweit«.79 Wie nicht anders zu erwarten, löste Bernhards Dokument – wie Schwarzschilds »Verfassungsentwurf« aus der gleichen Zeit – eine heftige Kontroverse unter den liberalen und kommunistischen Fraktionen der Volksfront aus.80 Letztlich blieb es allerdings von rein theoretischem Interesse, denn, solange die Nationalsozialisten an der Macht waren, blieb der Verfassungsentwurf ein toter Buchstabe.81
Während seines französischen Exils (1935–1937) arbeitete der jüdische Journalist und ehemalige SPD-Reichtstagsabgeordnete Georg Bernhard zusammen mit anderen deutschen Emigranten an dem »Entwurf einer Verfassung für das Vierte Reich«. Das künftige Deutschland sollte der »Demokratie und Gleichheit weltweit« verpflichtet sein.
Das Vierte Reich hatte nicht nur eine politische Prägung. Dass sowohl Bernhard als auch Schwarzschild – wie viele andere Exiljournalisten – Juden waren, zeigte, wie die Idee auch eine jüdische Färbung annahm.82 In dieser Zeit verbanden die deutschen Juden ein Viertes Reich ganz allgemein mit einer gewissen Hoffnung und manchmal sogar mit Humor. Vor allem deutsch-jüdische Flüchtlinge hofften naiv auf den bevorstehenden Sturz Hitlers und versuchten, die positiven Aspekte ihrer Situation zu sehen. Die zahlreichen deutsch-jüdischen Auswanderer, die in die Vereinigten Staaten geflohen waren, lebten vor allem in New York, insbesondere in Washington Heights.83 Ende der 1930er-Jahre erhielt der Stadtteil den Beinamen »Das vierte Reich«. Die genaue Herkunft des Spitznamens ist unbekannt, doch wie es scheint, verliehen die deutschen Juden ihrem neuen Viertel selbst die Bezeichnung – wenn auch in »scherzhafter«, »ironischer« oder »sarkastischer« Weise.84 Allerdings war die Bedeutung des Namens wahrscheinlich tiefgehender, als es Ernest Stock vermutete, als er die Namensgebung in der Nachkriegszeit als »plumpen Jux« bezeichnete.85 Der Name war zweifellos eine Art Bewältigungsstrategie. Deutsche Juden in Washington Heights versuchten, so viele kulturelle Traditionen wie möglich in ihrer neuen Heimat zu bewahren. Aus Deutschland geflohene Juden bezeichneten ihr Viertel als Viertes Reich und verknüpften ihr neues Zuhause so auf schwarzhumorige Weise mit dem Land, aus dem sie geflohen waren.86 Darauf deutet ein bekannter Flüsterwitz aus der NS-Zeit hin: »Ein Jude besucht in New York einen Verwandten, dem die Emigration aus Deutschland gelungen ist. Zu seiner Überraschung findet er im Wohnzimmer ein Hitlerbild. Er fragt, was das zu bedeuten habe. ›Gegen das Heimweh!‹[,] erklärt der Besitzer.«87 Vor diesem Hintergrund kann der ironische Beiname »Viertes Reich« als Ausdruck der Hoffnung deutscher Juden verstanden werden, das NS-Regime möge nicht von Dauer sein.
Diese Hoffnung prägte auch einige der Verweise auf das Vierte Reich, die in den 1930er-Jahren in der jüdischen Presse erschienen. Im Herbst 1935 verkündete der amerikanisch-jüdische Arbeiterführer und Geschäftsführer der Zeitung Forward, Baruch Charney Vladeck, voller Zuversicht, das Dritte Reich der Nazis werde bald von einem fortschrittlicheren Staat, bestehend aus demokratischen Kräften, abgelöst: die »sozialistische Bewegung in Europa erholt sich … definitiv von dem ersten Schock des Hitlerismus und … ist in die Offensive gegangen«; Vladeck prognostizierte den Aufstieg einer »Massenbewegung« aus Vertretern der Arbeiterbewegung und Liberalen, die sich gegen den Faschismus stellten: »Das Vierte Reich … wird eine Vereinigung von Arbeitern und dem Mittelstand sein, die auf Gleichheit und Demokratie beruht.«88 Die gleiche Art von Hoffnung kam im folgenden Jahr in einem Aufsatz in der deutsch-jüdischen Wochenzeitung Aufbau zum Ausdruck. Im Januar 1936 erschien hier eine futuristisch-fiktionale Zusammenfassung einer Silvesterfeier im New York des Jahres 1956. Nach der Beschreibung des imaginären Ereignisses, zu dem auch eine Liveübertragung des ersten Aktes von Richard Wagners Parsifal aus der großen Nationaloper Tel Aviv gehörte, hieß es in dem Artikel optimistisch: »unter den Anwesenden … waren der deutsche Generalkonsul Dr. Wolfgang Isidor Nathan … In seiner Begleitung befand sich der Chefredakteur der New Yorker Staatszeitung, Dr. Hadubrand Krause, der sich durch sein mutiges Eintreten für Demokratie und Sozialismus im Vierten Reich unsere allseitige Sympathie erworben hat.«89 Der Aufbau zeigte Deutsche und Juden, die sich miteinander versöhnt hatten, und präsentierte so eine verlockende Vorstellung deutschjüdischer Verständigung. Diese Hoffnung verbreitete, wenngleich mit einer zusätzlichen Portion Hohn, auch ein anderer Artikel, der im August 1939 erschien. Anlässlich der Abtragung einer Statue des philosophischen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing auf dem Wiener Judenplatz durch die Nationalsozialisten hieß es in dem Artikel: »und zu Recht! Der Autor von Nathan [dem Weisen] muss kein Held für die Nazis sein. … erst im Vierten Reich« werde das Verbrechen wiedergutgemacht.90 Die Hoffnungen, die Juden mit der Vorstellung des Vierten Reiches verbanden, äußerten sich schließlich auch in dem Buch Europe’s Conscience in Decline (1939) des Rabbi (und späteren US-Marinekaplans) Charles Shulman. Sein Werk war eine Anklage gegen den Antisemitismus der damaligen Zeit. So schrieb Shulman empathisch, die Juden in Deutschland »dachten, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs … sei der Hass zu Ende gegangen. Mit dem Aufstieg Hitlers erkannten sie, dass sie sich einmal mehr getäuscht hatten … In Deutschland und im Exil haben sie das NS-Regime nicht als das Deutschland akzeptiert, das sie in ihren letzten Hoffnungen erträumt hatten. Sie warten auf das Vierte Reich.«91 Im jüdischen Sprachgebrauch stand das Vierte Reich kurzum für die Hoffnung auf ein künftiges Idealbild von Deutschland.
Unmittelbar nach Kriegsbeginn prophezeite die jüdische Presse zudem, das nächste Deutsche Reich werde ein fortschrittlicher Staat sein. Um dies zu gewährleisten, müsse jede künftige Friedensregelung die Probleme des Versailler Vertrags vermeiden und gegenüber Deutschland nicht Strenge, sondern Milde walten lassen. 1940 erklärte Ben Mordecai im Jewish Advocate: »trotz allem, was wir durch Hitlers Hände erlitten haben … wenn wir darauf bestehen, das neue Deutschland in Ketten zu legen … das Vierte Reich, mit einer riesigen Rechnung für alle Sünden und Verwüstungen seiner Vorgängerregierung, dann wird es uns nur gelingen, ein normales Leben für dieses unglückliche Land unmöglich zu machen … Die Agitatoren werden dann darauf verweisen, dass es die Juden sind, die den Wiederaufbau Deutschlands verzögern.«92 Diese Zurückhaltung mag angesichts der späteren jüdischen Forderungen nach einer Bestrafung Deutschlands für seine Kriegsverbrechen überraschen. Zum Zeitpunkt von Mordecais Artikel hatten die schlimmsten Exzesse der Judenverfolgung durch das NS-Regime jedoch noch nicht stattgefunden. Darüber hinaus waren die amerikanischen Juden sensibel für den Vorwurf der »Kriegstreiberei«; sie standen im Ruf, die Regierung von Präsident Franklin D. Roosevelt in einen ausländischen Krieg verwickeln zu wollen, den amerikanische Isolationisten ablehnten. Aus diesem Grund versuchten die Vertreter der jüdischen Presse, sich gegenüber einem zukünftigen Vierten Reich optimistisch zu zeigen.
Von einer ähnlichen Abneigung gegen Vergeltungsmaßnahmen zeugte eine von Martin Panzer verfasste und im Frühjahr 1941 im Jewish Exponent veröffentlichte fantastische Geschichte über »das, was nach Kriegsende mit Hitler geschehen könnte«. Panzer schilderte ein gnädiges Szenario, in dem der Führer für seine Vergehen nur einen Klaps auf das Handgelenk bekam. In einer zukünftigen Welt »drei Monate nach dem Friedensvertrag … und fünf Monate, nachdem … das Vierte Reich fast reibungslos zu funktionieren begonnen hatte«, nimmt die neue deutsche Regierung Hitler gefangen und stellt ihn für seine Verbrechen vor Gericht. Es folgen wochenlange Zeugenaussagen und Kreuzverhöre, doch völlig unerwartet erscheint Hitler schließlich als »eine erbärmliche Gestalt in seiner Einsamkeit«, sodass die Menschen ihn als »einen Außenseiter« betrachten. Als die Zeit der Urteilsverkündung kommt, wird Hitler schuldig gesprochen, kommt aber mit einer Bewährungsstrafe davon. Überraschenderweise halten nur wenige Menschen das Urteil für ungerecht, denn für sie ist »das alte Wrack« im Wesentlichen »machtlos«. Die Geschichte endet mit einer Szene ausgleichender, wenn auch absurder Gerechtigkeit:
Mehrere Produzenten boten Hitler fette Summen für Bühnen- und Leinwandauftritte. Von einer großen Versicherungsgesellschaft kam ein Angebot über 50.000 Dollar pro Jahr, falls Hitler eine Vizepräsidentschaft übernähme. Doch Hitler schenkte keinem einzigen von ihnen Beachtung. Er nahm sich ein kleines Zimmer über einem Feinkostladen und schrieb unablässig. Um ihn herum entstand eine kleine Gruppe namens Zukünftige Deutsche Partei. Ein Polizist stand vor dem Gebäude Wache, um ihn zu schützen.93
In ihrer Vorhersage von Hitlers Nachkriegsreputation war Panzers Geschichte alles andere als hellseherisch. Aber sie unterstrich die Befindlichkeiten der amerikanisch-jüdischen Bevölkerung zu einer Zeit, als ihr Land noch neutral war und ihre Loyalitäten noch immer suspekt waren. Amerikanische Juden zeigten sich hier bereit, Deutschland für seine Verbrechen zu vergeben und der neuen Nachkriegsregierung bei der Wiederherstellung von Gerechtigkeit zu vertrauen. Sie befürworteten damit die Vorstellung von einem Vierten Reich.