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Das Vierte Reich und die Erinnerung an den Nazismus

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Auf diese Weise können wir die Rolle der Erinnerung im Erfolgsnarrativ der Bundesrepublik besser verstehen. Seit dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 haben unzählige Beobachter die Deutschen aufgefordert, sich an die »Lehren« des Dritten Reiches zu erinnern, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Um festzustellen, ob die Deutschen diese Aufgabe erfolgreich gemeistert haben, haben Wissenschaftler verschiedene Formen der schwierigen »Aufarbeitung« der NS-Erfahrung untersucht. Die wissenschaftliche Forschung zur Vergangenheitsbewältigung ist immens und beleuchtet das Thema aus zahlreichen methodischen Perspektiven.53 Bis heute haben jedoch nur wenige Wissenschaftler erkannt, dass der Nachkriegsdiskurs über das Vierte Reich ein wesentlicher Bestandteil dieses größeren Prozesses der Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit war.

In den Jahren nach 1945 war das Vierte Reich eine Chiffre für unterschiedliche Positionen zur Erinnerung. Die Frage des Umgangs mit der NS-Erfahrung spaltete die Menschen im In- und Ausland. Einige, zumeist aus dem linksliberalen Lager, riefen zum Gedenken auf und forderten eine Dokumentation der Verbrechen der NS-Zeit sowie eine Verurteilung der Täter. Andere, üblicherweise aus dem Mitte-rechts-Lager, plädierten für Amnesie wie Amnestie und betonten, die Verbrechen der NS-Zeit müssten vergessen und ihre Täter in die Nachkriegsgesellschaft integriert werden. Diese gegensätzlichen Ansichten über die Vergangenheit Deutschlands standen in direkter Wechselbeziehung mit der Sorge um ein mögliches neues Reich. Die »Alarmisten« im In- und Ausland fühlten sich der Erinnerung verpflichtet und schürten konsequent Ängste vor einer möglichen Rückkehr der Nationalsozialisten an die Macht. Für die »Apologeten« dagegen gehörte der Nationalsozialismus ein für alle Mal der Vergangenheit an, sodass sie die Nachkriegsängste als unbegründet abtaten. Untersucht man die Art und Weise, wie beide Gruppen die Vorstellung von einem Vierten Reich instrumentalisierten, so zeigt sich, dass sie unterschiedliche Beweggründe hatten – lautere und weniger lautere. Unter den Alarmisten waren einige der ehrlichen Überzeugung, ein neues Reich sei eine ernsthafte Möglichkeit, während andere den Begriff aus niederen Beweggründen instrumentalisierten. Unter den Apologeten bezweifelten einige ernsthaft eine Bedrohung der Nachkriegsordnung durch den Nationalsozialismus, während andere ihn bewusst herunterspielten, um das internationale Image Deutschlands aufzupolieren. Ein Vergleich der intensiv geführten Debatte beider Gruppen über das Vierte Reich hilft uns, zu verstehen, wie die Kräfte der Gegenwart die Sichtweisen der Vergangenheit geprägt haben.

Das Vierte Reich als Spiegel der Erinnerung zu untersuchen, erlaubt uns zudem, nicht nur deutsche, sondern auch globale Tendenzen der Erinnerungskultur zu verstehen. Ab den 1960er-Jahren normalisierte sich der Begriff des Vierten Reiches zusehends. Anstatt als Chiffre eines wiederauflebenden Nationalsozialismus in Deutschland zu gelten, wurde er zu einem metaphorischen Vorboten des globalen Faschismus. Nach der »Schmierwelle« 1959–1960 und der Festnahme Adolf Eichmanns bzw. dem Eichmann-Prozess 1960–1961 wuchs bei vielen die Überzeugung, die Gefahr des Nationalsozialismus könne von Orten außerhalb Deutschlands ausgehen – sei es in Lateinamerika, im Nahen Osten oder in den USA. Kurz darauf nutzten linke politische Aktivisten und Intellektuelle in den USA und Europa – darunter H. Rap Brown, James Baldwin und Régis Debray – den Begriff eines Vierten Reiches, um den Rassismus gegen Afroamerikaner, den Vietnamkrieg und den Watergate-Skandal anzuprangern. In den 1970er- und 1980er-Jahren internationalisierte sich der Begriff weiter und bezeichnete andere autoritäre Staaten wie etwa die griechische Militärjunta oder das südafrikanische Apartheidregime. Nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 erweiterte sich die Bedeutung des Vierten Reiches schließlich und bezeichnete gesetzwidriges Verhalten weltweit. Rechtsgerichtete europäische Nationalisten in Großbritannien, Russland und Polen haben sich der Idee bedient, um europäische Integration, Globalisierung und Verwestlichung anzugreifen. Linke Aktivisten in den USA verwenden den Begriff unterdessen, um Symbole des autoritären Populismus wie etwa die Brexit-Entscheidung Großbritanniens und die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu attackieren.

Das Vierte Reich hat nicht nur eine Universalisierung, sondern auch eine Ästhetisierung erfahren. Ab den späten 1960er- und 1970er-Jahren wurde die Idee eines neuen Reiches zunehmend zum Thema populärer Romane, Filme, Fernsehsendungen, Comics und sogar Punkrocksongs. Zu den prominenteren Beispielen gehörten Bestseller (und spätere Kinohits) wie Frederick Forsyths The Odessa File, Ira Levins The Boys from Brazil und Robert Ludlums The Holcroft Covenant; Folgen der Fernsehserien Mission Impossible, Codename U.N.C.L.E. und Wonder Woman; Ausgaben von DC- und Marvel-Comics wie Batman und Captain America; und Songs von den Dead Kennedys und den Lookouts. Dieser Trend ist bis heute ungebrochen, betrachtet man ironisch-absurde Filme wie Iron Sky oder ambitionierte Internetdramen wie Amazons The Hunt.54 Diese Werke waren von den unterschiedlichsten Motiven inspiriert, viele von ihnen nutzten die Prämisse eines Wiedererstarkens der Nationalsozialisten jedoch zu Profit- sowie Unterhaltungszwecken und schwächten damit ihren moralischen Impetus. Aufgrund dieser normalisierenden Tendenzen löste sich die Vorstellung eines Vierten Reiches von ihrem ursprünglichen Bezugsobjekt – der Rückkehr der Nationalsozialisten an die Macht in Deutschland – und wurde zu einem universellen Bedeutungsträger für das Böse. Im Zuge dessen hat sie etwas von ihrer mahnenden Glaubwürdigkeit verloren.

Das Vierte Reich

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