Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 10
Baha, der Frühling
ОглавлениеNoch lange dachte ich immer wieder darüber nach, wie ich denn so schnell wie möglich meine Mitschülerin Baha heiraten könnte. Ihre Mutter war gebürtige Deutsche, ihr Vater ein Inder aus Bombay. Für mich war Baha eine Schönheit. Ihre zarten, schlanken Glieder faszinierten mich, und wenn sie an manchen Tagen ihr pechschwarzes, gelocktes Haar in wunderschön gewundenen Zöpfen geflochten hatte, konnte ich meinen Blick gar nicht mehr von ihr abwenden. Baha saß in der zweitletzten Reihe. Ich saß direkt hinter ihr. Manchmal schrieb sie Sätze auf Zettelchen, die sie mir zukommen ließ. Einmal war darauf zu lesen gewesen, dass sie des Öfteren Katzengedanken habe, die auf Mäusegedanken Jagd machten, und dass sie noch nicht herausgefunden habe, ob die Mäusegedanken die Katzengedanken fräßen oder umgekehrt. Nachdem ich den Zettel gelesen hatte, lächelten wir uns andächtig an. Niemand in meiner Klasse konnte so etwas Tolles schreiben. Ich glaubte, Baha wusste viele Dinge, die mir noch fremd waren, und ich war mir sicher, dass Baha mich mochte.
»Baha, kannst du mir verraten, warum wir auf der Welt sind?«
»Damit wir Fotos machen können«, antwortete sie.
»Ich verstehe«, sagte ich nach einer Weile, obwohl ich ihre Antwort noch nicht ganz begriffen hatte. Aber es war sicher etwas Kluges. Baha sagte immer kluge Sachen. Und da Baha sehr gut in der Schule war und ich sehr schlecht, sagte ich zu ihr, dass ich in der Schule tiefbegabt sei, dafür aber im Leben hochbegabt.
Wie könnte ich nur meine Hochzeit mit Baha voranbringen, damit ich meine Schmerzen für immer verlöre? Ich würde einfach Bahas Mutter besuchen und ihr erzählen, dass ich ihre Tochter um alles in der Welt heiraten möchte. Ich würde ihr ein Dutzend feiner Damenstrümpfe aus der Fabrik meiner Eltern als Vorhochzeitsgeschenk mitbringen. Bahas Mutter würde strahlen, so, wie alle strahlten und sich freuten, denen meine Eltern Damenstrümpfe mitbrachten: der Fleischer, der Bäcker, der Schuster und der Zahnarzt. Deren Waren und Leistungen bezahlten meine Eltern häufig mit Strümpfen. Sogar mein Englischlehrer wurde für meinen Privatunterricht mit Strümpfen bezahlt, ebenso wie mein Flöten- und Akkordeonlehrer. Die Lehrer konnten es kaum erwarten, bis ich die heiße Ware zur nächsten Unterrichtsstunde mitbrachte. Einen ganzen Karton voll von Strümpfen würde ich zu Bahas Mutter mitnehmen, und sie würde unserer Heirat gewiss zustimmen. Und danach wäre ich meine Pein für immer los. Nie wieder Schmerzen!
Vor Kurzem erzählte mir Baha, dass ihr Name ins Deutsche übersetzt »Frühling« hieße.