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Dann möchte ich auf der Stelle heiraten, Mama

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Nachdem ich den Müll hinausgebracht hatte, ging ich zu Mutter ins Wohnzimmer, wo sie immer noch mit ihrem Buch saß und sich gerade eine neue Zigarette anzündete. »Mutter«, sie schaute von ihrem Buch auf, »warum habe ich immer dieses schmerzhafte Brennen in meinen Fingerkuppen und in meinen Zehen?«

»Kind, wie oft willst du mich das noch fragen? Ich habe dir schon mehrere Male gesagt, dass das in der Familie liegt. Dein Großvater hatte diese Schmerzen, auch dein Urgroßvater und meine Mutter. Ganz viele aus meiner Familie mussten damit leben. Aber ich kann dich trösten. Wenn du etwas älter wirst, geht das Brennen von ganz allein weg. Bei uns in der Familie sagte man immer: Die Schmerzen sind jederzeit durch Heirat heilbar. Und durch sehr viel Bewegung in frischer Luft.« Mutter betonte nochmals, dass in dem Moment, wo man heiratete und Kinder bekäme, der Spuk für immer vorbei sei!

»Dann möchte ich auf der Stelle heiraten, Mama. In meiner Schulklasse gibt es ein paar Mädchen, die...«. Mutter unterbrach mich. »Mit deinen neun Jahren bist du doch noch viel zu jung, um zu heiraten, mein Junge!«

»Das ist doch egal, Mutter. Wenn dadurch auf der Stelle die schrecklichen Schmerzen aufhören...«

Mit einem tröstlichen Blick und einem sanften Streicheln meiner Wangen kehrte Mutter wieder zu ihrer Lektüre zurück. Und ich wollte umgehend bei Baha, dem schönsten Mädchen in meiner Klasse nachfragen, ob sie mich wohl heiraten würde.

Ich mochte es, wenn Mutter am Nachmittag im Wohnzimmer las. Ich mochte diese geborgene Ruhe, die sie in diesen Momenten ausstrahlte, den Duft ihrer Zigaretten. An jenen Nachmittagen hatte ich das Gefühl, Mutter gehöre mir ganz allein. Und dann gab es da etwas zwischen Mutter und mir, ein gegenseitiges, unausgesprochenes Ahnen von etwas Fremdem, Unbekanntem, von etwas, das in unseren Körpern wütete und uns beide zu zerstören drohte. Ich hatte so oft so furchtbare Schmerzen, und keiner wusste, warum, nur bei ihr fühlte ich mich in meinem Schmerz geborgen.

Einmal habe ich während einer Schulstunde angefangen, furchtbar zu weinen, und der Lehrer fragte mich, was denn mit mir los sei.

»Ich habe vergessen, wie meine Mutter aussieht«, schluchzte es aus mir heraus.

»Dann gehe nach Hause und schau dir deine Mutter an«, sagte der Lehrer, was ich dann auch tat. Ich klingelte, und Mutter war tatsächlich zu Hause und nicht wie meist in der Firma.

»Was ist denn los«, fragte Mutter erstaunt, »ist der Unterricht schon zu Ende?«

»Nein, ich habe nur vergessen, wie du aussiehst, Mutter, und da hat mir der Lehrer erlaubt, kurz nach Hause zu gehen, um nachzuschauen.«

Mutter nahm mich in ihre Arme und drückte mich fest an ihren Körper. Als wir uns wieder voneinander lösten, eilte ich sofort beglückt und voller Zufriedenheit in die Schule zurück.

Ich wollte von Mutter geliebt werden! Ich musste von ihr geliebt werden! Angesichts meiner schrecklichen Schmerz- und Fieberanfälle, die mich alle paar Wochen heimsuchten, hatte ich da nicht das Recht auf eine immer verfügbare, tröstende und liebende Mama?

In den Momenten, in denen ich mich einigermaßen gesund fühlte, tat ich alles dafür, Mutters Liebe zu gewinnen. Zum Beispiel an den Sonntagen, wenn alle noch schliefen, stand ich gegen sechs Uhr am Morgen auf und bereitete für die ganze Familie das Frühstück vor. Ich war dabei so leise, dass keiner mich hörte, denn ich wollte nicht, dass mir irgendjemand half. Ich wollte das erhoffte Lob von Mutter ganz allein bekommen.

Meist saßen gegen neun Uhr alle, die der Familie Uhlig angehörten, am Tisch: Vater, meine Schwester Manuela, das Kindermädchen, Mutter und mein Bruder Richard, der wie immer völlig übermüdet und halb schlafend dahockte, nachdem er mit seinen Freunden die ganze Nacht hindurch im Wieslocher Club Twist und Rock’n’Roll getanzt hatte. Vater war meist sauer auf ihn, weil er immer so spät nach Hause kam; aber vielleicht war er auch nur neidisch auf Richards Jugend und darauf, dass er mit Mädchen ausgehen konnte. Alle hatten sich daran gewöhnt, dass ich jeden Sonntag das Frühstück machte und nahmen es als eine nicht weiter erwähnenswerte Tatsache hin, während Mutter jedes Mal ein Lob an mich richtete.

Auch an diesem Morgen war ich wieder sehr aufgeregt: Was wird Mutter vor versammelter Familie wohl heute über meinen so kunstvoll arrangierten Frühstückstisch sagen? Ich wartete. Ich schaute aufgeregt in die Runde. Warum sagte Mutter denn gar nichts? War ich ihr gleichgültig geworden? Würde ich meine Schmerzen in Zukunft ohne ihren Trost ertragen müssen? Wenn sie im nächsten Moment nichts sagte, würde ich bestimmt auf der Stelle sterben. Das hätte wenigstens ein Gutes: Nie wieder müsste ich das unerträgliche Brennen in meinen Händen und Füßen erleiden, nie wieder diese elenden Bauchschmerzen und Darmkrämpfe aushalten – Krämpfe, die so schmerzten, als würden sich die Kontinente dieser Welt in meinem Innern wieder zusammenziehen. Nie wieder müsste ich die Angst haben, dass diese furchtbaren Schmerzzustände nicht mehr aufhörten. Doch wie eine Sinfonie aus Liebe fielen Mutters Worte plötzlich in meine verzweifelten Gedanken ein.

»Hat der Gerald nicht wunderbar für uns gezaubert? Hat er nicht den Frühstückstisch in ein wunderschönes Kunstwerk verwandelt? Findest du nicht, Arthur, dass ihm der Fisch, den er aus der Butter gestaltet hat, besonders gut gelungen ist?«

Vater nickte ein wenig bejahend mit dem Kopf und murmelte vor sich hin:

»Letztlich landet die Butter doch auf dem Brötchen!«

»Du hast ja keine Ahnung davon«, raunzte Mutter meinen Vater an. Und dann wendete sie sich wieder ganz mir zu:

»Dein Frühstückstisch wird von Sonntag zu Sonntag immer schöner. Du bist eben mein Künstler.«

Im gleichen Atemzug bekam meine Schwester Manuela zu hören, dass sie das genaue Gegenteil sei, ein schlampiges Teufelchen. Sie sei liederlich und deshalb habe Mutter dem Dienstmädchen die Anweisung gegeben, ihr nicht mehr die Sachen nachzuräumen. In Zukunft solle sie das alles schön selbst machen.

In solchen Momenten tat mir Manuela furchtbar leid. Ich wollte doch nichts anderes als Mutters Liebe, aber nicht, dass wir Geschwister uns dabei gegenseitig ausspielten. Mutter war die Einzige, die mir noch glaubte, dass ich diese Schmerzen hatte, sie kannte den Schrecken aus ihrer eigenen Familie, sie kannte ihn von ihrem eigenen Körper. Nur sie wusste, dass ich nicht verrückt war und kein Simulant. Denn wer gilt schon gerne als Simulant? Mutter musste mich vor denjenigen, die diese Qualen nicht kannten, beschützen. Meine Lehrer glaubten immer, dass ich ihnen Krankheiten vorspielte, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Die vielen Ärzte, die meine Eltern aufsuchten, meinten: »Der Junge hat nichts!«, und sprachen ständig von einem psychischen Defekt.

Auch Manuela war manchmal meiner immer wiederkehrenden Anfälle müde. Sie war es auch leid, dass Mutter sie ständig zu meiner Krankenschwester machte. Manuela fiel es schwer, mich in meinen Zuständen zu verstehen. Und ich verstand nicht, warum gerade ich und niemand anderes in der Familie, in meiner Klasse, in meiner Schule, in meiner kleinen Stadt von diesen schmerzhaften Anfällen heimgesucht wurde. Das Schlimmste war, dass ich nie wusste, wann sie vorbei waren und ob sie nicht am nächsten Tag oder bereits in der nächsten Stunde zurückkehrten. Diese ständige Ungewissheit machte mich schier wahnsinnig! Wenn die Schmerzattacken ganz schlimm wurden, schrie ich in die Nacht hinein: »Was habe ich denn falsch gemacht, Mutter, warum hast du mich in diese Hölle geboren?«

Für viele Menschen bedeutet Krankheit Aufmerksamkeit. Aber ich brauchte diese Art von Aufmerksamkeit nicht. Ich wollte nur eines: Raus aus diesem irdischen Fegefeuer und endlich schmerzfrei sein. Wem konnte ich meine Wahrheit nur vermitteln, dass sich endlich jemand auf den Weg machte, um mir zu helfen?

Zu meinem Vater ging ich nie mehr, um ihn zu fragen, wann denn diese gespenstigen Zustände in meinem Körper endlich vorbei seien, die all die anderen Kinder, die ich kannte, nicht hatten. Auf meine Fragen antwortete mir Vater immer das Gleiche:

»Du bist eben zu dünn und zu schwach. Du gleichst eher einer gut genährten Röntgenaufnahme als einem zukünftigen Mann. Wärest du ein starker Krieger mit Muskeln und aufblühender Manneskraft, dann würdest du keine Schmerzen spüren. Ein Krieger fühlt nie Schmerzen, mein Sohn, ganz gleich, wohin das Leben ihn führt. Leider hat mir das Schicksal mit dir keinen stämmigen Nachfolger geschenkt.«

Einige von Vaters Sätzen kannte ich bereits aus den Schwarz-Weiß-Western mit John Wayne in der Hauptrolle. Die sah Vater besonders gerne. Nein, mein Vater war für meine Fragen ungeeignet. Ich tröstete mich immer mit dem Gedanken an die dünnen und geschmeidigen Getreidehalme auf den Feldern, die sich viel besser an Stürme anpassen und diese auch unbeschadet überstehen können. Mich würde meine Dünnheit und Zerbrechlichkeit noch zu manchen Orten und Plätzen führen, zu denen der starke Krieger niemals Zugang findet. Auch wir Schwachen haben in manchen Situationen unsere Stärken.

Und trotzdem lebe ich

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