Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 18
Verrückte Träume
ОглавлениеAls ich wieder unsere Wohnung betrete und mir schon beim Schließen der Tür meine Liebsten fehlen, finde ich in meiner Jackentasche den Zettel mit der Telefonnummer des merkwürdigen Cafébesuchers. Im Bett liegend muss ich immer noch an ihn denken. Vielleicht hat mein Schicksal ihn heute zu mir geschickt, gerade heute, wo meine Blutwerte sich verschlechtert haben. Das viele Geld, eine neue Niere, meine Mara bliebe verschont. Wir drei könnten noch einmal etwas ganz Neues beginnen mit meiner neuen Niere, ein neues Leben. Vielleicht sollte ich jetzt sofort die Nummer wählen und dem Verkauf zustimmen. Besser eine Nacht darüber schlafen, ich habe ja noch bis morgen Mittag Zeit, mich zu melden. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere. Das Einschlafen fällt mir in der letzten Zeit immer schwerer und heute ganz besonders. Irgendwann fange ich dann doch an zu träumen.
In einem stinkenden Hinterhof verpacken zwei Männer eine frisch entnommene Niere in einen Eisbehälter. Auf einer schmutzigen Pritsche liegt ein junges elfjähriges Mädchen, halb betäubt von der Narkose und vor Schmerzen winselnd. Die Männer drücken der Mutter, die weinend neben dem Kind steht, einen Zehn-Euro-Schein in die Hand, nehmen die Kiste mit dem entnommenen Organ und verlassen den Ort. Auf dem blutenden Verband, der auf der Wunde des Mädchens dilettantisch angebracht ist, sitzen bereits Fliegen. Als ich mir das Gesicht des Mädchens näher anschaue, erkenne ich plötzlich meine ehemalige Schulkameradin Baha. Ich möchte schreien. In diesem Moment weht ein blutrotes Tuch über Bahas Gesicht. Viele Mönche laufen auf das rote Tuch zu und ziehen es von Bahas Gesicht, das sich in das Antlitz eines mir unbekannten indischen Mädchens verwandelt hat. Ich bin in den Slums von Bombay. Die Mönche verlassen summend den Ort, das junge Mädchen stirbt. Die Mutter des Mädchens fragt mich, ob ich zu den zehn Euro nochmals zehn für den Tod ihrer Tochter dazugeben könne. Diese könne nun nicht mehr arbeiten, und das sei der Hungertod der Familie.
An der Bar eines großen Hotels in Kairo sitze ich mit dem Chefarzt, der mich gleich in Zimmer 403 operieren wird und der das gleiche Gesicht hat wie der Mann, der mich in meinem Café aufsuchte, um es zu kaufen. Wir warten auf die beiden Männer mit der Kühlkiste und dem Organ. Sie treten ein, kommen auf uns zu und bestellen zwei Whisky. Ich übergebe den Männern zweihundertfünfzigtausend Euro in großen Scheinen, die ich in einem kleinen Köfferchen bei mir trage. Sie händigen dem Chefarzt die Kiste aus und verlassen die Bar. Der Chefarzt mit dem Organ in der Kühlkiste und ich steigen gemeinsam in ein Taxi, das vor dem Hotel auf uns wartet. Vor einem riesigen Gebäude, das ein Krankenhaus ist, halten wir an.
Als ich am Flughafen Tegel ankomme, sehe ich mein Foto auf dem Titel aller aushängenden Zeitungen. Darunter steht zu lesen, dass ich ein Verbrechen begangen habe. Ich hätte eine Niere in Indien gekauft, die mir dann in Kairo eingepflanzt worden ist. Als ich den Flughafen in Richtung Ausgang verlasse, stehen mehrere Polizisten gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsminister vor mir. Er legt mir auf der Stelle Handschellen an. Dabei lächelt er mich zynisch an und sagt in Pfälzer Dialekt: »Keiner wird in Deutschland das Organgesetz ändern. Ich werde der Widerspruchslösung nie zustimmen. Ich sage doch jeden Tag zu meinen Wählern, dass sie endlich einen Organspendeausweis ausfüllen sollen.« Und dann fragt er einen der Polizisten, warum das denn so wenige machten. Er wisse es nicht, ist dessen Antwort, er habe auch keinen ausgefüllt, er wisse nicht einmal, dass es so einen Ausweis gebe. »Meine Wähler haben alle Angst vor dem Sterben und den Dingen, die mit dem Tod zu tun haben. Vielleicht füllen sie deswegen keinen Spenderausweis aus. Vielleicht joggen sie lieber durch die Berliner Parks und Wälder und andere deutsche Landschaften in der Hoffnung, dass sie so gesund bleiben und nie ein fremdes Organ brauchen. Ich habe aber noch mehr Angst vor dem Tod, Herr Wachmeister, deshalb bin ich privat versichert wie die meisten meiner Kollegen im Bundestag auch.« Dann fragt der Minister alle Polizisten, die um ihn herumstehen und von denen immer mehr dazukommen: »Wie kommt man eigentlich um den Tod herum?« Er spricht diese Frage »Wie kommt man eigentlich um den Tod herum« immer wieder aus, sodass sie zu einem rituellen Gebet wird. Seine Stimme tönt dabei immer lauter und hysterischer, sodass alle Bundestagsabgeordneten in Berlin sie hören können und sofort zum Flughafen Tegel eilen, um zu ihren Wahlkreisen und Familien zurückzufliegen.
Eigentlich täte ihm seit längerer Zeit das Herz weh, fügt der Minister nun an. »Ob ich wohl bald ein neues Herz brauche, meine Herren?«, fragt er die Polizisten. »Das können wir Ihnen nicht sagen, Herr Minister, wir passen auf, sind aber keine Ärzte.« »Wie viel sterben zur Zeit jährlich allein auf der Warteliste«, fragt er mich, »Sie sind doch einer, der sich auskennt.« Ich stehe immer noch mit den Handschellen bewegungslos da. Ich fühle es, ich werde vielleicht bald auch ein Spenderherz brauchen. Wie lange muss man warten? Bis zu acht Jahren in Deutschland. Im Jahr versterben auf der Warteliste ungefähr zweitausend Menschen, berichtet der Bodenfeger des Reichstags, der plötzlich mit seiner Frau Lotte vor dem Minister steht. »Zweitausend im Jahr, so viele«, murmelt er vor sich hin. »Deshalb fliegen Lotte und ich doch nach Peking, weil ich mir dort ohne die Wartezeiten eine neue Leber einsetzen lasse. Für meine Frau habe ich gleich eine Niere dazugekauft.« Der Minister fragt den Bodenfeger des Reichstags, ob er vielleicht doch das bestehende Organgesetz ändern solle, auch in Hinsicht auf sein Herz. Dann beginnt er wieder seinen Singsang, und der Bodenfeger bittet den Minister, er möge doch endlich still sein, er habe bereits alle Türen im Reichstag abgeschlossen, niemand sei mehr im Hause, der ihn hören könne. Die Polizisten führen mich ab.
Die Gefängniszelle, in die sie mich stecken, ist so eng, dass ich darin nicht einmal sitzen kann. Kaum ist die Tür meiner Zelle verschlossen, meldet sich bereits Besuch an. Vor den Gittern steht eine Dame, die versucht, mir einen Strauß von zweihundert weißen Nelken durch die Stäbe hindurch in die Hände zu drücken. »Ich komme von ihrer Krankenkasse. Sie erinnern sich doch noch an Ihre Krankenkasse, die Sie ja hoffentlich nie in ihrem Leben wechseln werden. Dadurch, dass Sie mutiger Mann eine Niere in Indien gekauft haben, sind Sie einer der wenigen Patienten, die uns helfen, enorme Kosten zu sparen. Sie sind ein Musterkunde, ein richtiges Schnäppchen sozusagen. Erzählen Sie bloß niemandem etwas von meinem Besuch bei Ihnen, sonst bekomme ich eine Menge Probleme mit dem Gesetz, der Justiz und den Ethikkommissionen.«
Die enge Gefängniszelle wird plötzlich zu einer großen, geräumigen alten Villa inmitten einer wild bewachsenen Parklandschaft. Ein Mann, bekleidet mit einer blutroten Mönchskutte, schreit vom Balkon: »Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu bestehen.« Zum Rhythmus seiner Worte wechseln blitzschnell die Jahreszeiten im Garten und bleiben plötzlich mitten im Winter bei eisigen Temperaturen stehen. Der noch vor wenigen Sekunden frühlingshafte Garten ist nun meterhoch mit Schnee bedeckt. Mehrere Litfasssäulen wachsen aus dem gefrorenen Weiß heraus, auf denen riesige Poster aufreizender Damen in Unterwäsche zu sehen sind. In Zeitlupe lösen sie sich von den Plakaten und kommen im Laufsteggang auf mich zu: »Ich habe immer nur an dich gedacht«, sagt die eine, »denn ich kann alles denken, Wurstbrot, Glück und Fahrradschläuche, nur noch nicht das Nichts! An dein Geschlecht will ich. Ich will dich niederdrücken unter dem Gewicht meines geilen Körpers, denn unser Leben besteht aus der Suche nach dem Etwas im Nichts.«
Die Frauen formieren sich zu einem Chor. Ihre Brüste leuchten in der eiskalten Schneesonne wie weiße Tauben. Sie beginnen gemeinsam zu gurren und zu singen:
»Deine Kleidung zerreißen, dein Fleisch öffnen, dein Blut und deinen Samen schmecken, denn das reine Nichts und das reine Sein sind dasselbe. Herr Gerald Uhlig-Romero! Du weißt nicht, wie lange wir Frauen schon an dieser Säule verharren und dich herbeigesehnt haben und nun sollst du von uns bekommen, was du verlangst.« Die Damen nehmen mich bei der Hand, und wir schreiten gemeinsam durch den vielen Schnee ins Innere der Villa. Auf dem Weg dorthin frage ich eine der Damen, ob ihr denn in dieser spärlichen Bekleidung nicht kalt sei. Sie antwortet mir, dass ihre Wunde im Schoß brenne und ich ihr wärmender Sonnenaufgang sei. Daraufhin frage ich sie nach ihrer Blutgruppe, und sie antwortet: »Wir können uns küssen, mein Freund, ficken bis in alle Ewigkeit, aber unsere Organe können wir nicht tauschen.«
Der Mann mit der blutroten Mönchskutte erwartet mich bereits im Haus. Auf einer goldfarbenen Bühne strippt ein Mädchen, das mir zuruft, ihre Brüste seien noch zu klein, deshalb dürfe sie nur in der Mittagsshow auftreten. Der Mann mit der blutroten Mönchskutte spricht zu mir: »Für dich, mein Freund, fährt in wenigen Minuten eine Limousine vor, um dich abzuholen.« Er wendet nun seinen Blick an die Decke des Hauses, wo Szenarien aus Himmel und Hölle gemalt sind. »Herr im Himmel, nimm meine Blume, und ich möchte, Herr, dass du mir einige Sachen bringst. Notiere, Herr im Himmel: Ich will zwei Pakete Nudeln und Seife aus Lorbeerblättern und dann von der halben Wurst, der langen, und Herr, schau mich nicht an wie eine Taube, die du essen willst.« Er wendet nun den Blick zu mir zurück:
»Angesichts einer Schöpfung, in der alle Geschöpfe fressen und gefressen werden, liegt die Vermutung nahe, dass auch der Urheber frisst.«
In meinem Traum finde ich mich jetzt auf dem Dach der Villa wieder und eine Dame in einem lilasamtenen Abendkleid kommt mit einer blutenden Niere in der Hand auf mich zu. Ich schaue vom Dach nach unten in den Garten, wo es wieder Frühling geworden ist. Das Geschlecht der Dame verwandelt sich plötzlich in ein Piano, das Walzer spielt. Sie klammert sich mit einer solchen Wucht an mir fest, dass wir beide in die Tiefe stürzen. Ich habe den Sturz überlebt. Die Dame ist während des Fluges spurlos verschwunden. Neben mir auf dem blühenden Frühlingsrasen liegt die blutende Niere, die wie ein Springbrunnen kleine Fontänen von Urin in die Luft abgibt. Überglücklich versuche ich sofort, die Niere an mich zu nehmen, als plötzlich ein schwarzer Panther auf mich zurast, die Niere schnappt und vor meinen Augen auffrisst. Ich weine. Ich weine so sehr, dass der Frühlingsgarten zu einem riesigen Meer wird.
Statt der angekündigten Limousine kommt eine Segeljacht in ultramarinblauer Farbe. Ich betrete das Schiff. Nach ungefähr dreihundert Minuten stürmischer See verlasse ich es wieder und steige vor dem Auktionshaus Christie’s, London, 8 King Street, aus.
Heute soll ein seltenes Krankheitsbild versteigert werden. Mit vierhundert Millionen Euro ist das Bild aufgerufen. Sollte es verkauft werden, wäre es das teuerste Bild der Welt, brüllt der Auktionator über ganze Länder bis hin nach Heidelberg, wo ich einst geboren wurde.
Aus aller Herren Länder ist die High Society angereist und sämtliche Jetset-Sammler drängeln sich im Saal. Um sich die Zeit vor dem Beginn der Versteigerung zu vertreiben, entschwinden die Leute im Innern des Hauses auf die klassizistisch eingerichteten Toiletten, um sich halb Kolumbien in ihre Nasen zu ziehen und halb Afghanistan in ihre Venen zu spritzen, sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich zu besteigen.
Dann beginnt die Versteigerung. Das Bild, dessentwegen alle gekommen sind, steht auf einer goldenen Staffelei aus dem 17. Jahrhundert, die hinter dem hereinschreitenden Auktionator von zwei nackten Damen in den Saal geschoben wird. Die Spannung im Raum vibriert bereits. Noch ist das Bild von einem violetten Tuch verhüllt. Alle beginnen zu steigern, einhundert Millionen sind bereits geboten. Der Auktionator zieht das Tuch nicht vom Bild. Er nennt immer wieder den Titel des Werkes, den ich durch das laute Stimmengewirr im Raum akustisch nicht verstehe. Die Menschen im Auktionssaal steigern und steigern. Ich will nur zwei Dinge wissen: den Namen des Krankheitsbildes und wie es aussieht! Schon sind weit über dreihundert Millionen geboten. Jeder im Raum will das Bild besitzen. Rausch und Gier sind nicht mehr zu überbieten. Einer ruft: »Vierhundert Millionen.« Bei dieser Summe zieht der Auktionator langsam das violette Tuch vom Bild. Ich schreie: »Das bin ja ich auf dem Bild!« Ich schreie zum Auktionator: »Wie heißt das Krankheitsbild? Wie heißt das Krankheitsbild?«
Ich schrecke hoch. Es ist Morgen, und die Nacht liegt hinter mir.