Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 3
Kreatinin
ОглавлениеNur wenige Tage nach der Eröffnung meines neuen Kaffeehauses suchte ich den Hausarzt zu einer Routineblutuntersuchung auf. Ein paar Zigaretten zu viel wie auch so manches Glas Wein verursachen bei mir stets ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Körper. Und so muss mein Hausarzt immer wieder für Beruhigung sorgen. Dieses Mal stellte er jedoch fest, dass mein Kreatininwert erhöht war; dies ließe darauf schließen, dass mit meinen Nieren etwas nicht stimme. Auf meine Frage, was denn dieses Kreatinin sei, erklärte er mir, es sei ein Stoff, der in Muskel- und Nervenzellen entstünde und von diesen ins Blut abgegeben werde. Da Kreatinin fast ausschließlich über die Niere ausgeschieden werde, sei es ein empfindlicher Parameter für die Filtrationsleistung dieses Organs, die bei mir offenbar gestört sei. Je höher der Wert im Blut ist, umso schlechter entgiften die Nieren den Körper. Nieren sehen aus wie dicke, rotbraune Bohnen, zehn Zentimeter lang, und wiegen jeweils bis zu zweihundert Gramm. Warum nun meine Nieren defekt seien, könne er mir nicht sagen, dafür müsse ich einen Spezialisten aufsuchen.
Bis dahin spielte Kreatinin in meinem Leben keine Rolle, obwohl ich seit meiner frühesten Kindheit in unterschiedlichen Zeitabständen immer wieder von unerklärlichen Krankheitssymptomen heimgesucht worden war. Seit jenem Tag, an dem mein Hausarzt den erhöhten Kreatininwert festgestellt hatte, kam ich kaum mehr zur Ruhe. Die Gedanken an das Kreatinin nahmen immer mehr Raum in meinem Kopf ein. Sie begannen, mich zu jagen, einzukreisen und in einen Käfig panikartiger Angstzustände zu sperren. Das ist die Art der Angst, die einen so furchtbar klein macht. Das Wort Kreatinin und die Gedanken dazu blähten sich in meinem Kopf auf wie das Universum, das bis in alle Ewigkeit und mit immer größerer Geschwindigkeit expandiert. Und irgendwann würde ich über diese Ausdehnung meinen Verstand verlieren, das war meine größte Angst. Es könnten keine neuen Sterne mehr in meinem Kopf entstehen. Mein Kosmos war in Gefahr, ein dunkler und kalter Raum zu werden. Die Gedanken an dieses »harnpflichtige Stoffwechselprodukt« demütigten meine Lebensfreude und erinnerten mich ständig daran, wie es ist, wenn einem der Tod mit recht entschlossenen Schritten entgegenläuft.