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Wiesloch, Herbst 1960

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»Kinder, jemand muss den Müll hinausbringen, das Dienstmädchen hat heute frei.«

Mutters Stimme kam aus dem Wohnzimmer, wo sie meistens am Nachmittag zwischen vier und sechs Uhr in ihrem Sessel saß – ein Buch in der rechten Hand, in der Linken zwischen ihren Fingern eine Zigarette der Marke »Ernte 23«. Aus dem alten Holzradio, das die Form eines Nierentisches hatte, erklang dazu meist leise klassische Musik. Heute waren es die Chopin-Walzer. Je nach Laune war Mutter die Seele des Hauses oder die sehnsuchtsvoll Abwesende. Einmal in der Woche ging Mutter zum Psychologen, alle vierzehn Tage zum Friseur. Eigentlich weiß ich bis heute nicht, welche natürliche Farbe die Haare von Mutter hatten. Manchmal begleitete ich Mutter zum Friseur und wenn ich danach mit ihr durch unsere kleine Stadt lief und dabei ihre Hand hielt, war ich nicht ohne Stolz auf die Blicke der anderen, die auf das ungewöhnlich gefärbte und auftoupierte Haar meiner Mutter starrten. Mutter und ich waren eben von einem anderen Stern.

»Den Haaren und der Seele immer wieder neue Farbe geben, das hält jung«, sagte Mutter gerne. Ihre Haarfarbe variierte von Monroe-Blond bis zu Jacqueline-Kennedy-Rot. Auch unser Haus in Wiesloch, dieser Ort im Nirgendwo, blieb nicht von Mutters Liebe zu extremen Farben verschont. Es bekam einen pinkfarbenen Anstrich. Über die gesamte Hauswand zur Straße hin ließ Mutter die Augustusburg, das Wahrzeichen ihrer Geburtsstadt Augustusburg, malen. Die überdimensionale Zeichnung erinnerte stilistisch ein wenig an die Postkarten von den Schlössern König Ludwigs. So mancher Einwohner unseres Städtchens Wiesloch, in dem ungefähr zehntausend Menschen lebten, pilgerte anfangs etwas befremdet an dem Haus vorbei, so als betrachtete er im Museum ein unverständliches Kunstwerk. Später kam noch ein zwanzig Meter langer Pool zum Haus dazu, der wie eine Niere um den hinteren Teil gelegt wurde. Über den Pool wurde eine Brücke gebaut, die von der Terrasse in den Garten führte. Nun wirkte das Haus tatsächlich wie der Vorbote eines Popkunstwerks.

Auch in ihren Essgewohnheiten war Mutter Vorreiterin. Eingekauft wurde nur im Reformhaus und überall dort, wo die Nahrungsmittelindustrie der sechziger Jahre gesunde Lebensmittel anzubieten hatte. Mutter war also ständig unterwegs auf der Suche nach ausgefallenen Farben, dem körnigsten Schwarzbrot, der neuesten Mode und nach ihrem Selbst. Um Letzteres zu finden, suchte sie den Psychoanalytiker und Therapeuten Alexander Mitscherlich auf, Direktor der Psychosomatischen Klinik an der Universität in Heidelberg und damals der Guru schlechthin.

Einmal fragte ich Mutter ganz neugierig, was denn ein Therapeut sei. Sie erwiderte, ein Therapeut sei ein Mensch, der gelernt habe, die Seele eines anderen Menschen zu massieren, damit sie sich entspanne und sich alte, unangenehme Erlebnisse langsam von ihr lösten. Ich war erstaunt über Mutters Antwort und stellte gleich die Frage hinterher, wo denn die Seele im Menschen liege, die der Therapeut massiere? Die fände man in der Nähe des Herzens, antwortete Mutter. Dann müsse der Therapeut ihren Busen berühren und massieren, denn das Herz mit der Seele läge ja dahinter. So sei das, antwortete Mutter und lachte. Ich hatte noch nie Mutters Busen gesehen und war etwas verstört, aber gleichzeitig auch fasziniert vom Berufsbild eines Therapeuten, der so nahe an die geheimnisvollen Dinge des Lebens kommen konnte. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob Mutters Seele sehr verspannt war.

Einmal, als Mutter aus ihrer Therapiestunde kam und danach auch noch den Friseur aufgesucht hatte und ihre Haare hellblond leuchteten, flüsterte sie mir und meiner Schwester Manuela ins Ohr: »Ach, meine Kinder, Therapeut hin, Seelenmassage her, ich glaube, es gibt da doch nicht so viel zu finden. Beim Friseur war es heute viel lustiger.«

Und trotzdem lebe ich

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