Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 7

Unterschiedliche Planetensysteme

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»Ich habe den Müll hinausgebracht«, sagte ich zu Mutter. »Das hast du gut gemacht, mein Junge«, antwortete sie.

Nach meiner Geburt in einem Heidelberger Krankenhaus ging es direkt in den Brutkasten. Ich war ein schwächliches Geschöpf und konnte aufgrund eines Magenpförtnerkrampfs keine Nahrung bei mir behalten. Für alle um mich herum galt ich bereits als verloren. Dass ich wie ein Phönix aus der Asche wieder auftauchen sollte, verdankte ich einer Verwandten meines Vaters aus dem Osten und ihren dicken Brüsten.

Meine Mutter war keine Übermutter. Kinderlieder wie »Die Mutter ist eine Milch, eine schöne, eine warme« wurden bei uns nicht gesungen. Mutter konnte mir den beruhigenden Busen nicht geben, da gab es für mich als Letztgeborenen nichts mehr zu trinken. Meine Eltern waren 1950 aus dem Osten geflohen und hatten bei dem anstrengenden Neubeginn im Westen wenig Zeit für ihre Kinder: Ihr Ältester, mein Bruder Richard, war bereits 1942 zur Welt gekommen, meine Schwester Manuela wurde bald nach der Ankunft im Westen geboren und ich anderthalb Jahre später, 1953. Die neu gegründete Firma forderte meinen Eltern alle Energien ab. Mutter sagte auch ganz ehrlich, dass sie eigentlich mit Kleinkindern nie sehr viel habe anfangen können und dass Vater sie immer gegen ihren Willen geschwängert habe. Nach drei Geburten sei endgültig Schluss damit gewesen.

Mutter war von ihrem Wesen her Unternehmerin durch und durch. Gemeinsam mit meinem Vater baute sie eine Strumpffabrik auf, die von ihr perfekt gemanagt und geleitet wurde. Sie war eine begnadete Verkäuferin der Strumpfprodukte, die mein Vater mit seinen Maschinen produzierte. Vater war der Praktiker des Unternehmens, und der nahtlose Damenstrumpf, den er damals entwickelte, sollte sich als ein Verkaufshit herausstellen. Im Geschäftsleben ergänzten sich die beiden zu einem perfekten Team, in den anderen Lebensbereichen bewohnten sie vollkommen unterschiedliche Planetensysteme. Er hasste, was ihr wichtig war: Großzügigkeit, Gefühle, das Theater, die Literatur, die Künste, feine Restaurants, überhaupt alles, was mit einem gewissen Lebensstil zu tun hatte.

Mehrere Wochen nach meiner Geburt bekam Mutter einen ersten Schlaganfall und mein Vater traf die Angst, dass damit die Existenz der Firma und unserer Familie auf dem Spiel stände. Vater, sonst als aufgeblähter Hahn bekannt, fühlte sich ohne seine Frau hilflos.

Was nur war mit Mutter geschehen? Sie war gerade erst dreißig Jahre alt geworden. Hatte sie sich mit der Flucht, mit dem Neuaufbau und ihrer dreifachen Mutterschaft überfordert? Hatte ihr meine Geburt zu viel Kraft geraubt? Vater sprach später von einer Zeit der Verzweiflung, die er damals durchstanden habe. Mein Überleben war noch nicht gesichert, seine Frau lag mit einem Schlaganfall im Krankenhaus und die Firma geriet ins Trudeln. Wie durch ein Wunder erholte sich Mutter dann doch recht schnell. Das Einzige, was der Schlaganfall bei ihr zurückließ, war eine Gleichgewichtsstörung, die sich in einer Unsicherheit beim Laufen bemerkbar machte. Seit dieser Zeit unternahm Mutter Spaziergänge nie mehr allein.

So kam es, dass ich, kaum im Westen geworfen, gleich in den Osten verfrachtet wurde, an die dicken Brüste von Maria. Meine Eltern nannten sie Tante Maria, obwohl sie nur eine entfernte Verwandte aus der Familie meines Vaters war. Es dauerte ein halbes Jahr lang, bis mein Körper Essen bei sich behalten konnte. Tante Maria fütterte mich Löffelchen für Löffelchen. Meist erbrach ich mich nach der Nahrungseinnahme wieder. Doch Maria päppelte mich geduldig weiter. Vierundzwanzig Stunden wachte sie über mich, Tag für Tag, ein halbes Jahr lang. Einzig ihrer Geduld und Fürsorge habe ich mein Überleben zu verdanken. Dazu gab es jede Menge Körperwärme, geballt zwischen ihren überdimensionalen Brüsten. Zwischen diesen verbrachte ich wohl die meiste Zeit meines Aufenthaltes in dem kleinen Dorf Gelenau im Erzgebirge.

Als Mutter wieder einigermaßen von ihrem Schlaganfall geheilt war, sehnte sie sich nach ihrem Söhnchen, sodass Vater noch einmal eine Fahrt zurück in den Osten antrat, um mich wieder in die Familie zurückzuholen. 1954 war eine solche Reise nicht mehr ganz ungefährlich, da die Grenze nach Westdeutschland bereits geschlossen war. Wesentlich leichter war damals die Flucht in den Westen über Berlin.

Und trotzdem lebe ich

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