Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 11
Ich verbrenne bei lebendigem Leib
ОглавлениеIn meiner Kindheit fieberte ständig die Gegenwart, in meinem Körper ging es in etwa so zu wie in meiner Familie: Angenehme, wohltuende Wärme konnte im nächsten Augenblick in eine Eiseskälte umschlagen und von dort ohne Unterlass in ein Verglühen. Immer, wenn ich Fieber bekam, und das geschah mindestens einmal im Monat, begann die Hölle durch meinen Körper zu reisen und ich hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Es wird erst aufhören, wenn die Hölle gefriert, dachte ich in meiner Verzweiflung, und sollte ich das alles überstehen, dann werde ich eines Tages in meinem Leben die Kraft haben, Wasserfälle hinaufzuklettern. In diesen Schmerzzeiten gab es nicht mehr die geringste Freude auf die kleinsten Schätze, die man mit seiner kindlichen Phantasie sonst barg. Alles in mir und um mich herum wurde zu einem zerstörerischen Feuer, und es gab für mich nur noch einen Gedanken: Du darfst deine Kraft nicht verlieren, du musst diese Schmerzen überleben.
Meist begann meine Körpertragödie am frühen Abend. Dann fing das Fieber an zu steigen. Wenn meine Mutter zu Hause und nicht gerade mit dem Management der Firma beschäftigt war, machte sie mir kalte Umschläge um meine Arme und Waden. Das Kindermädchen schnitt rohe Kartoffeln in Scheiben, die wurden in Tücher eingelegt und über meinen glühend heißen Körper ausgebreitet. Dazu gab es mitleidende Blicke und alle zwei Stunden ein Fieberzäpfchen. Manchmal halfen die Wadenwickel ein wenig, aber die Schmerzen hielten sich doch nur für kurze Zeit zurück.
Weinend fragte ich Mutter oftmals, ob sie nicht zaubern und mich noch einmal ohne diese Schmerzen, ohne dieses Fieber auf die Welt bringen könne. »Mein Gott, ich habe doch keinen Sohn geboren, damit er sein ganzes Leben lang leiden muss«, flüsterte Mutter sich selbst zu.
Wenn das Fieber kam, wurde alles um mich herum Fieber: die Luft, die ich atmete, die Vögel draußen in unserem Garten, mein kleiner Zoo von Stofftieren, das ganze Haus und die Welt, auf der unser Haus stand. Manchmal stopfte ich mir ein Tuch in den Mund, weil ich meine eigenen Schreie nicht mehr hören konnte. Um mich abzulenken, schrieb ich Gedichtzeilen auf einen Notizblock: Zeilen, die mir Mutter einmal vorgelesen hatte und die sich in meinen Kopf eingebrannt hatten.
»Ich weine Tag und Nacht; ich sitz’ in tausend Schmerzen; und tausend Schmerzen fürcht’ ich noch.«
Beim Schreiben zitterte meine Hand wie die eines alten gebrochenen Menschen. Manchmal zerbrach ich den Bleistift, wenn die Bauch- und Magenkrämpfe dazukamen, und die kamen unangemeldet in einer solchen Wucht, als würden alle meine Schulkameraden auf meinem Bauch Trampolin springen. Die größte Angst aber machte mir die Aussichtslosigkeit, dass sich je etwas an meinem Zustand ändern könnte. Mein Schwesterchen Manuela strich mir manches Mal über meine heiße Stirn und sagte: »Du Armer, Ärmster, schlaf es weg, schlaf es doch einfach weg.«
Aber wie sollte ich es wegschlafen, wenn mir selbst meine Träume keine Ruhe gaben. Oft wachte ich mitten in der Nacht schweißgebadet auf. In meinem Traum stand ich in Flammen. Um mich herum tanzte das Wasser. Das Wasser wollte nur tanzen, nicht aber die Flammen löschen, in denen ich verbrannte. Dann rannte das tanzende Wasser weg, weit weg von mir und stürzte sich ins entfernte Meer. Da war keine Welle geblieben, die mich hätte kühlen können.
Was hatte ich Schlechtes getan, dass ich mit so viel Schmerz gestraft wurde? Ich wollte mich nur noch in Mutters Arme legen und weinen. Die Anfälle dauerten meist drei bis vier Tage. Dann zog sich das Fieber wieder zurück. Wenn die Attacken vorbei waren, fühlte ich mich für die nächsten Tage wie ein ausgebrannter Krater, den man nur noch mit Tränen füllen konnte. Später, wenn mein Körper dann tatsächlich ohne Schmerzen blieb, hatte ich das Gefühl, ein neues Leben beginnt.
Mutter brachte mir Geschenke: Farben, Malblöcke, Kunstbücher. Das sei die Belohnung dafür, dass ich wieder so tapfer gewesen sei und die Anfälle besiegt habe. »Du wirst immer von einer anderen Aura sein, denn alle großen Melodien sind traurig«, flüsterte Mutter mir zu, als ich ihre Geschenke auspackte. Erst viel später in meinem Leben würde ich verstehen, was sie mir damals hatte sagen wollen. Die Welt, die in Farben schreien will, die ich gestalten muss, ist längst in mir gewesen.