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Die Zahnfee

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Meine kleine Tochter Geraldine, mit den dunkelbraunen Augen ihrer argentinischen Mutter Mara und der unbändigen Energie unverkennbares Produkt ihrer Eltern, stürmt ins Kaffeehaus. Sie ruft so laut in Richtung meines Tisches, dass alle rundherum sitzenden Gäste mithören müssen: »Papa, eben ist mir zum ersten Mal ein Zahn herausgefallen!« Sie legt mir das Zähnchen auf den Teller, wo bereits ein angegessenes Stück Apfelstrudel liegt, und setzt sofort nach: »Du musst mir jetzt einen Euro für die Zahnfee geben, damit sie einen neuen Zahn nachwachsen lässt.« Ich wühle in meiner Tasche, da ich aber keinen Euro finde, rufe ich den Kellner, dass er mir doch bitte mal einen ausborgen möge. Geraldine nimmt strahlend das Geld entgegen und legt es gemeinsam mit dem Zahn in ein Schächtelchen, das sie aus ihrer kleinen Umhängetasche hervorholt. Sie schmiegt sich liebevoll an mich.

»Du solltest in der nächsten Zeit immer Ein-Euro-Münzen bei dir haben, Papa, der hier wackelt auch schon.«

Ich kann nicht sagen, warum plötzlich eine Erinnerung auf mich einstürzt wie ein Komet. Ich muss an meine Mutter denken – Mutter, die seit so vielen Jahren aus meinem Gedächtnis verschwunden gewesen ist, tief verschollen irgendwo im Fundus meines Gehirns.

Es war in Wien, 1976. Ich stand auf der Bühne des Max-Reinhardt-Seminars und rezitierte gerade aus einem Theaterstück die Zeilen: »So stach er in ihre Brust und fand Blut, wo er zuvor zu wenig Milch gefunden hatte«, als mir plötzlich – ganz ohne medizinischen Grund – der rechte Schneidezahn ausfiel und aufgrund des intensiven Textsprechens in hohem Bogen in den dunklen Zuschauerraum geschleudert wurde. Der Zahn verschwand auf immer im Dunkeln. Alle Mitspieler, die den Auftritt meines fliegenden Zahns mitverfolgten, begannen darauf derart zu lachen, dass wir die gemeinsame Szene abbrechen mussten. Am gleichen Tag, ein paar Stunden später, rief mich meine Schwester Manuela aus Heidelberg an, um mir mitzuteilen, dass unsere Mutter vor wenigen Minuten verstorben sei.

Mutter ist mit zweiundfünfzig Jahren elend gezeichnet an einer Krankheit verstorben, die die Ärzte damals als Multiple Sklerose diagnostizierten. Ihr Tod war eine Erlösung für sie – das war damals mein erster Gedanke. Als ich Mutter etwa sechs Monaten zuvor zum letzten Mal gesehen hatte, saß sie im Krankenzimmer in ihrem Rollstuhl. Sie konnte kaum mehr sprechen oder sich bewegen. Mühsam winkte sie mich mit ihrer arthritisch verkrüppelten Hand zur Seite und bat mich mit schwerverständlichen Worten darum, ihr die erlösenden Tabletten zu besorgen. Die Ärzte hier in diesem Krankenhaus würden das nicht für sie tun. Ich sei jetzt nicht nur ihr Sohn, ich sei auch ihr Arzt, und es sei meine Pflicht, ihr zu helfen. Was sollte ich tun? Ich konnte es nicht, ich konnte sie aber auch nicht weiter leiden sehen. Mutters Bitte hatte mich nicht nur hin- und hergerissen, Mutters Bitte hatte mich zerrissen. Letztlich war ich zu schwach und zu feige gewesen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.

Und trotzdem lebe ich

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