Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 13

Im Wartezimmer

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Jedes Mal, wenn ich im Wartezimmer sitze, um die neuen Nierenwerte zu erfahren, bewegt sich die Zeit nicht von der Stelle. An diesen Vormittagen ist das Wartezimmer für mich ein überfüllter Vorhof zum Tod. Angstgefühle unterschiedlichster Art jagen durch meinen Körper. Und die immer wieder gleichen Fragen geistern durch meinen Kopf: Ist das Kreatinin nach oben gegangen? Ist es konstant geblieben? Ist es vielleicht ein wenig zurückgegangen? Hat es sich drastisch verschlechtert? Wie lange arbeiten meine beiden Entgiftungsmaschinen noch? Und wenn meine Nierenwerte tatsächlich so schlecht geworden sind, was wird dann aus mir? Ein Leben an der Dialysemaschine? Für den Rest der Tage auf eine Entgiftungsmaschine angewiesen?

Wer einmal in der Dialysefalle steckt, hat schlechte Aussichten, je wieder lebend herauszukommen. Jedes Kind weiß mittlerweile, dass es in Deutschland zu wenige Spenderorgane gibt, dass viele tausend Menschen auf Wartelisten stehen und, wie bei Wladimir und Estragon im Stück von Samuel Beckett, das ewige Warten auf die Erlösung vom Warten schmerzlich schwer und immer schwerer wird. Dialysepatienten müssen im Durchschnitt sechs bis acht Jahre auf ein Spenderorgan warten und viele von ihnen sterben während ihrer Zeit auf dieser Warteliste.

Der Arzt ruft mich in sein Sprechzimmer. Ich zucke zusammen. Einen Gang in die Todeszelle stelle ich mir kaum schlimmer vor. Hoffentlich wartet im Sprechzimmer des Arztes eine Begnadigung auf mich. Zweimal im Monat vollziehe ich dieses Prozedere. Der Arzt fragt obligatorisch: »Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich?« Meine Antwort darauf ist eine auch nicht gerade abwechslungsreichere Litanei von Fragen: »Warum gibt es keine medizinische Erklärung für das Versagen meiner Nieren? Was genau ist es, das sie zerstört? Ich habe keinen chronischen Bluthochdruck, höchstens einmal cholerische Ausbrüche, die ich von meinem Vater geerbt habe. Ich ernähre mich, seit ich auf der Welt bin, einigermaßen gesund: Fisch, Obst, Gemüse, Gemüse, Obst, Fisch. Ich habe keinen Diabetes. Bitte sagen Sie mir endlich, welcher Dämon es ist, der sich in meinen Körper eingeschlichen hat? Oder verkraften meine beiden Nieren mein bisheriges Leben einfach nicht?«

Er lächelt jetzt zum ersten Mal, seit ich in seinem Sprechzimmer bin, öffnet meine Krankenakte und sucht den blauen Zettel, auf dem die neuesten Blutwerte stehen.

»Ihr Kreatinin liegt heute bei 3,08. Der Wert ist also im Vergleich von vor vierzehn Tagen etwas nach oben gegangen. Ein Sprung von 0,5. Kalium 5,3, Harnstoff 57.«

Der Arzt murmelt die Zahlen in sich hinein. Ich setze mit einer kräftigen Stimme dagegen:

»Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wie lange werden meine Nieren noch arbeiten?«

Er holt seinen Taschenrechner aus der Schublade und fragt, wie viel ich im Moment wiege. Ich antworte: 58 Kilogramm. Ob ich immer so wenig gewogen hätte, fragt er. Ich bejahe. Er tippt die Zahl 58 ein. Er fragt, welche Körpergröße ich habe. Ich sage: einen Meter und fünfundachtzig Zentimeter. Er murmelt weiter vor sich hin, dass mein Kreatininwert bei dreipunktnullacht liege. Auch diese Zahl tippt er in seinen Rechner ein. Dann setzt er eine mir unbekannte Zahl in seinen Rechner dazu und teilt mir mit, dass beide Nieren zusammen noch etwa 23 Prozent Leistungskapazität haben. Da Nieren sehr zähe Organe seien, die selbst noch bei 15 Prozent den gesamten Körper entgiften könnten... Er unterbricht sich selbst, um mir mitzuteilen, dass er es einfach nicht genau sagen kann. Je nach Konstitution eines Körpers hätte man bei einer Leistungskapazität von 23 Prozent vielleicht noch zwei oder drei Jahre. Und er erzählt von den vielen anderen Faktoren, auf die es eben auch noch ankäme. Aber es könne eben alles auch sehr viel schneller gehen.

Wir verabschieden uns freundlich voneinander, und ich verabrede mit der Schwester im Vorzimmer den neuen Termin für die nächste Blutentnahme.

Und trotzdem lebe ich

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