Читать книгу Und trotzdem lebe ich - Gerald Uhlig - Страница 19

Man sucht etwas und findet etwas anderes

Оглавление

Manchmal schlafe ich wegen zu viel Freude am Leben schlecht ein. Manchmal halten mich einfach zu viele Glücksgefühle wach. Und wenn ich dann wegen der Vorfreude auf den nächsten Tag zu wenig geschlafen habe, hängt den ganzen Tag über eine Müdigkeit an mir, die mich in tausend Stücke brechen kann. Heute Morgen ist alles ganz anders. Die Träume dieser Nacht haben mich wach geschleudert, begleitet von panischen Ängsten. Mein erster Gedanke ist: Niemals werde ich ein Organ auf dem Schwarzmarkt kaufen. Lieber kämpfe ich hier in Deutschland für ein verändertes Organgesetz, damit der Mangel an Spenderorganen endlich ein Ende hat. So kann man wenigstens im Kleinen dem schrecklichen Schwarzhandel entgegentreten. Mein zweiter Gedanke ist: Auch wenn mich der Vortrag des Mafioso fasziniert hat, nie werde ich mein Kaffeehaus an so einen Menschen verkaufen, egal, wie hoch die Summe ist, die er bietet. Nein, so ein Wesen wie er bin ich nicht. Auch wenn ich kriminelle Anflüge im Leben verspürt hätte, sie durchzuführen, das hätten meine schwachen Nerven nicht zugelassen. Ich sehe den Zettel mit der Nummer des Mafioso auf meinem Nachttisch liegen und zerreiße ihn in winzige Stückchen.

Bei der Katzenwäsche im Bad schleichen Gedanken zu den nächtlichen Träumen in meinem Kopf herum. Einmal sehe ich den schwarzen Panther vor mir, der eine gesunde Niere vor meinen Augen auffrisst, dann wieder die Versteigerung dieses Krankheitsbildes, auf dem ich mich erkannt habe, aber dessen Namen ich nicht verstanden habe. Welch eine Krankheit plagt mich, deren Namen ich nicht kenne und die langsam Stück für Stück meine Nieren frisst? Beim Anziehen frage ich mich wieder einmal, wie viel Zeit mir noch bleibt, ehe meine Nieren versagen. Nach den vagen Berechnungen meiner Ärzte sind es ja vielleicht nur noch fünfzehn Monate. Nieren machen beim langsamen Versagen im Körper keinen Lärm. Sie verabschieden sich in einer beklemmenden Stille, einer gespenstigen Schmerzlosigkeit. Möglich ist auch, dass alles sehr viel schneller dem Ende zugehen kann. Und das soll es dann gewesen sein? Während ich zur Küche laufe, um nach etwas Essbarem im Kühlschrank zu suchen, ist mir die Vorstellung, dass ich mit meinen rund fünfzig Jahren bald sterben könnte, während die Menschen weiter lieben, lachen und leben, unerträglich. Im Kühlschrank herrscht absolute Leere, dafür sehe ich in Gedanken meine Freunde beim festlichen Leichenschmaus, jeder scheint ganz froh, dass es ihn noch nicht erwischt hat. Jetzt, wo mein Kaffeehaus in voller Blüte steht, soll ich einfach verschwinden? In einer Zeit, in der die meisten eine Lebenserwartung von achtzig oder bald neunzig Jahren haben, da soll ich mich jetzt schon von den Würmern fressen lassen?

Auch wenn ich noch so lange in den Kühlschrank starre, da ist einfach »nichts von nichts«, wie Mara immer zu sagen pflegt. Der Gedanke an das viel zu frühe »Nicht-mehr-Mitspielen-Können« löst Wut in mir aus. Die Kunst, mein Café und all die spannenden Dinge, die mein Leben prägen, all das soll von einem schwarzen Loch aufgesogen werden und für immer verschwinden? Ich verlasse die Küche und beschließe, mich sofort auf den Weg ins Kaffeehaus zu machen, um dort zu frühstücken. Der Koch dort weiß um meine Diät, die ich zu mir nehmen muss und was soll ich nach diesen furchtbaren Träumen hier allein in der Wohnung, ohne meine Familie, die sich auf einem anderen Erdteil befindet, ohne die Möglichkeit, ein wenig Wärme und Geborgenheit zu tanken.

Als ich an meinem Bücherschrank im Wohnzimmer vorbeilaufe, streift mein Blick ein Buch über den Buddhismus: »Lass los, mein Freund, einfach loslassen. Befreie dich von weltlichen Gedanken und Gütern.« Natürlich kommt mir die buddhistische Philosophie als postpostmodernem Individualisten sehr entgegen. All unsere Begierden, sagt der Gründer des Buddhismus, Gautama Siddhartha, wird man durch die innere Einkehr verlieren: »Du darfst nur behalten, was du in jedem Moment bereit bist loszulassen!« »Meister, ich kann so vieles loslassen, nur mein Leben im Moment noch nicht. Meine überschäumende Weltneugierde treibt mich immer noch an. In mir hat sich noch keine Spur von Unzufriedenheit oder Abgestumpftheit eingegraben. Ich will auch das Aufwachsen meiner geliebten Tochter noch miterleben.«

Wie ein stures Kind murmele ich weiter in Richtung meines Bücherregals, dass ich mich noch nicht von allem Weltlichen lösen will! Ich will noch kein Erleuchteter sein, lieber ein Kaminfeuer in der Welt, das voll von Widersprüchen munter vor sich hin brennt und auch meinen Liebsten um mich herum Wärme und Licht spendet. Anhäufungen von Besitz sind für mich reizlos. Begegnungen mit interessanten und denkgewandten Menschen, die den Geist beflügeln, das Eingebundensein in einen Freundeskreis, kluge Zeilen in einem Gedicht, ein Spaziergang in der Natur: das ist mein Weltwert. Wie sehr genieße ich den Duft einer frisch gerösteten und gut zubereiteten Melange am Morgen, das aufgewühlte Meer mit dem verschwimmenden Horizont, eine Zugfahrt von Hamburg nach Berlin, vorbei am Gelb der Rapsfelder in der Abendsonne, den ersten frischen Spargel mit gekochten Kartoffeln und Buttersoße, die Wolkenbilder über dem Berliner Tiergarten, die Zufälle, die mir bisher die schönsten Erlebnisse geschenkt haben, den warmen Wind, der Maras langes lockiges Haar in Richtung des blauen Himmels hebt, meine mir innewohnende Trauer. An all dem möchte ich noch ein wenig teilhaben.

Beim Verlassen der Wohnung fällt mir ein, dass ich meine Tabletten noch nicht eingenommen habe. Ich eile zurück und schlucke die Chemie herunter. Hat nicht schon vor dreihundertfünfzig Jahren der Dichter Jean Molière gesagt, dass die meisten Menschen an ihren Medikamenten und nicht an ihren Krankheiten sterben. Aber noch bin ich nicht so weit. Noch fühle ich in meinem Körper enorme Kraftreserven. Da sind zwei Reinigungsmaschinen defekt und eine davon muss ausgewechselt werden. Für unsere Medizin ist das heute ein Kinderspiel. »Papa, Totsein ist blöd, weil man da nichts mehr erleben kann.« Recht hatte meine Tochter, als sie mir das beim gemeinsamen Radfahren zurief. Das Leben hält für uns so viel bereit, da will man erst gehen, wenn die Kraft einen verlässt.

Beim erneuten Versuch, aus der Wohnung zu kommen, bleibe ich vor dem Spiegel im Flur stehen. Ich sehe keinen Schleier der Resignation, keine Lebensenttäuschung, keinen übersättigten Blick der Langeweile in meinen Augen. Sie strahlen noch. Sie sind nicht matt, wie bei einem verlorenen Schachspiel. Diese Augen gehören noch nicht dem Tod, sie gehören dem Leben! »Wenn das Alter bloß könnte – wenn die Jugend bloß wüsste«, rezitiere ich vor mich hin. Viele übersehen, dass es dazwischen eine Lebensstrecke gibt, in der man sowohl »kann« als auch »weiß«. Das ist die schönste Zeit im Leben. Und diese Zeit hat bei mir doch gerade erst begonnen.

Ich schaue auf meine Uhr und bemerke, dass es gerade erst halb sieben ist. So früh haben mich meine Alpträume geweckt. Das Café ist noch lange nicht geöffnet. Also bleibe ich zunächst in der Wohnung. Ich behalte den Mantel an, setze mich auf die Couch und greife nach dem Schachbrett, das auf dem Tisch steht. Ich stelle die Figuren gegeneinander auf. Ich muss etwas tun, damit die Träume nicht wieder von mir Besitz ergreifen. Ich werde Schach spielen, werde mich einfach in zwei Personen aufteilen und gegen mich selbst antreten. Meine Eltern kommen mir in den Sinn, mein damaliges Leben zwischen meinem Vater und meiner Mutter, das mir noch heute manchmal so erscheint, als sei ich eine Schachfigur gewesen, die im ständigen Konkurrenzkampf der beiden hin und her geschoben wurde. Mutter hat mich Vater entrissen, indem sie ihn ständig schlecht machte und dann habe ich begonnen, mir meinen Vater auszureden, und dann das ganze Spiel umgekehrt. Ein verfluchtes Familienschach.

Nach ein paar Zügen höre ich auf, ich kann mich an diesem Morgen nicht sehr lange konzentrieren. Ich laufe ziellos in der Wohnung auf und ab. Ich greife in meinen Bücherschrank und nehme das eine oder andere Buch heraus. Beim unruhigen Durchblättern fallen mich Sätze an, die ich irgendwann einmal unterstrichen habe. »Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, schlechten Lebens«, steht da auf Seite 387 zu lesen. Ich erschrecke ein wenig, als sich in diesem Moment der Briefkastenschlitz öffnet und die Zeitung auf den Fußboden fällt. Zu Wittgensteins Gedanken habe ich mir damals mit dem Bleistift eine Anmerkung ins Buch geschrieben, die ich kaum entziffern kann, und ich ärgere mich über meine unleserliche Schrift, die mir vorkommt wie das Geschmiere eines Kleinkindes.

Trotz meiner unerklärlichen Krankheitszustände habe ich mir bisher keinen Gott zugelegt. Mein Glück wie mein Unglück verdanke ich der Natur und den Entscheidungen, die ich in meinem bisherigen Leben getroffen habe, den guten wie den schlechten, den richtigen wie den falschen. Und mit den Folgen dieser Entscheidungen muss ich leben! Ohne Klagen.

Beim Weiterblättern begegne ich Epikur: »Der Tod geht mich nichts an, denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und so lange ich bin, ist er nicht«, und Voltaire: »Die Geburt ist offenbar ein Schwerverbrechen, denn sie wird mit dem Tode bestraft«, und Seneca: »Wenn es daher das allergrößte Glück ist, nicht geboren zu werden, so halte ich es für das nächstgrößte Glück, nach einem überstandenen kurzen Leben schnell in den früheren unangefochtenen Zustand zurückversetzt zu werden.«

Ich stelle die Bücher alle wieder ins Regal und gehe Pinkeln.

Und trotzdem lebe ich

Подняться наверх