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Mutter schwärmt

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»Hast du den Müll nun hinausgebracht«, fragte Mutter, als ich leise das Wohnzimmer betrat.

»Ja«, antwortete ich, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir gar nicht zuhörte. Mutter verehrte die Literatur, und manchmal, an den langen Nachmittagen der Stille im Wohnzimmer unseres Hauses, las sie mir aus klassischen Werken vor. In ihrer Hand wechselte häufig Thomas Manns Buddenbrooks mit Stefan Zweigs Roman Die Welt von gestern. »Wie viel Weltsehnen weht aus der Literatur immer wieder zu uns herüber«, pflegte sie gerne zu sagen und fügte hinzu, dass die deutsche Sprache über einen so großen Reichtum an Ausdruckskraft verfüge. Mutter verabscheute den sächsischen Dialekt ihrer Heimat und sagte meiner Schwester und mir immer wieder, wie froh sie auch aus diesem Grund sei, ihre Heimat Sachsen verlassen zu haben. Der Dialekt, von dem sie in ihrer neuen Heimat begrüßt wurde, das Badische, brachte sie allerdings genauso zur Verzweiflung. Mutter achtete in aller Strenge darauf, dass sich bei meiner Schwester und mir keine Dialektfärbung einschlich. »Der Klang gesprochener Sprache ist Musik.« Darum las Mutter uns Kindern im reinsten Hochdeutsch vor, als Training für ein gutes Sprachgefühl, wie sie gerne hinzufügte.

Thomas Mann war ein Dichter der Krankheiten. Der Zauberberg war immer auf Mutters Nachttisch zu finden. Zettel mit Notizen, die Mutter sich gemacht hatte, ragten aus den Seiten des Buches heraus. Auf einem stand zu lesen: »In den Sphären der Krankheit fühlte Thomas Mann sich rettungslos zu Hause (September 1919/aus seinem Tagebuch).« Was suchte Mutter in diesem Roman, der zwischen Poesie und exakter medizinischer Krankheitsbeschreibung pendelt? Fühlte sie die Krankheit auch als ihr Zuhause? Oder fühlte sie eine Krankheit, die sich in ihr ein Zuhause gemacht hatte?

Meinen ersten Namen, Gerald, verpasste mir mein Vater, meinen zweiten, Christian, habe ich Thomas Manns Buddenbrooks zu verdanken. Christian Buddenbrook war einer von Mutters Lieblingsfiguren. Wenn ein Junge, dann Gerald, rief mein Vater, denn der Name sei germanischer Herkunft und bedeute »der Speer, der ins Zentrum trifft«. Und ein männlicher Nachfolger, ausgestattet mit Vaters Genen, müsse unbedingt zur Jagd. Nach einem längeren Streit mit meiner Mutter landete Christian eben an zweiter Stelle. Den Namen für unseren Schäferhund Boogie hatte Mutter ganz allein entschieden. Mutter schwärmte leidenschaftlich für den Schauspieler Humphrey Bogart.

Und trotzdem lebe ich

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