Читать книгу Einführung in die Erkenntnistheorie - Gerhard Ernst - Страница 14
2.1 Cartesische Skepsis
ОглавлениеDie Möglichkeit des Irrtums
Ausgangspunkt für denjenigen, der all unser Wissen (oder doch das meiste davon) in Frage stellen möchte – den Skeptiker –, ist die kaum bestreitbare Tatsache, dass wir uns gelegentlich täuschen. Wir glauben, uns daran zu erinnern, dass Goethe 1751 geboren wurde. Aber wir lesen nach, dass es 1749 war. Wir glauben, dass die beiden Linien der Müller-Lyer-Illusion ungleich lang sind. (Es handelt sich dabei um die bekannte Zeichnung zweier Linien, von denen die erste als Doppelpfeil nach außen gezeichnet ist, während bei der anderen zwei Pfeilspitzen auf die Endpunkte zeigen.) Aber wir messen nach und sehen, dass sie tatsächlich die gleiche Länge haben. Wir glauben, dass morgen die Sonne scheinen wird. Aber tatsächlich wird es ein regnerischer Tag. Häufig rechnen wir mit der Möglichkeit eines Irrtums. Wir wissen, dass unser Gedächtnis uns manchmal im Stich lässt, dass unsere Wahrnehmung fehlbar ist und dass Prognosen (gerade solche, die das Wetter betreffen) sich als falsch herausstellen können. Dementsprechend passen wir den Grad des Vertrauens an, das wir in die jeweilige Information setzen. Wir glauben vielleicht, dass Goethe 1751 geboren wurde und dass die beiden Linien ungleich lang sind. Aber wir würden nicht unser gesamtes Vermögen darauf verwetten, dass wir jeweils Recht haben. Und wir packen vielleicht auch dann einen Regenschirm ein, wenn wir an schönes Wetter glauben. Manchmal sind wir uns unserer Sache aber auch völlig sicher, und trotzdem liegen wir falsch. Mancher Irrtum trifft uns völlig unvorbereitet. Offensichtlich ist unser Gefühl der Gewissheit kein Garant dafür, dass wir tatsächlich Recht haben. Gibt es aber überhaupt eine Garantie? Oder ist ein Irrtum immer möglich?
Sinnestäuschung
Der Skeptiker möchte zuerst einmal genau das plausibel machen. Seiner Ansicht nach ist es immer möglich, dass Umstände vorliegen, die uns zu falschen Überzeugungen führen. Betrachten wir dazu einmal die Überzeugungen, die wir direkt aus der Wahrnehmung gewinnen, etwas genauer. Mit welchen Fehlermöglichkeiten ist hier zu rechnen? Zunächst einmal gibt es da die Möglichkeit einer Sinnestäuschung, etwa die einer optischen Täuschung wie im Fall der Müller-Lyer-Illusion. Allerdings kommen solche Sinnestäuschungen im Alltag verhältnismäßig selten vor, und noch seltener führen sie zu einem Irrtum. Auf die Müller-Lyer-Illusion fallen wir höchstens einmal herein. Sehen wir sie ein zweites Mal, so erscheinen die Linien zwar noch immer ungleich lang. Wir werden jedoch nicht mehr zu der Überzeugung kommen, dass sie wirklich ungleich lang sind, und dementsprechend täuscht diese Sinnestäuschung wirklich nur noch unsere Sinne, nicht aber uns. (Die Rede von „Sinnestäuschung“ ist dann strenggenommen sogar falsch, weil die Sinne nicht urteilen und sich deshalb auch nicht täuschen können.) Der Stab, der ins Wasser getaucht wird, erscheint gebrochen. Dass er es nicht ist, lernen wir jedoch in frühester Kindheit ein für allemal. Von anderen Sinnestäuschungen hören wir sogar meistens, bevor sie die Chance haben, uns zu täuschen. Wer kennt nicht die Fata Morgana? Aber wer hat schon einmal eine gesehen? Am gefährlichsten sind vielleicht Täuschungen der folgenden Art: Wir sehen eine Frau von weitem, die aussieht wie Claudia, und wir kommen zu dem Schluss, Claudia gesehen zu haben. Tatsächlich irren wir uns: Bei der Frau handelt es sich um Michaela. Vielleicht sieht Michaela Claudia einfach sehr ähnlich. Vielleicht ist sie sogar ihre Zwillingsschwester. Während bei der Müller-Lyer-Illusion und beim gebrochenen Stab Gleiches verschieden aussieht, sieht hier Verschiedenes gleich aus. Aber auch diese Fehler treten nicht gerade häufig auf, selbst wenn man noch die Fälle hinzunimmt, bei denen wir mit irgendwelchen Attrappen konfrontiert werden.
Könnte der Skeptiker sich nur auf Sinnestäuschungen der beschriebenen Art berufen, so wäre es ihm keineswegs möglich, plausibel zu machen, dass ein Irrtum immer möglich ist. Die beschriebenen Täuschungsmöglichkeiten sind an sehr spezielle Umstände gebunden, die nur selten vorliegen. Nur in wenigen Fällen ist es sinnvoll, sich zu fragen, ob nicht vielleicht eine optische Täuschung vorliegt. Beispielsweise sehe ich, dass vor mir ein Schreibtisch steht. Ist es hier möglich, dass ich einer Sinnestäuschung zum Opfer falle? Wie sollte diese zustande kommen? Vielleicht handelt es sich bei dem, was ich sehe, um eine Schreibtischattrappe. Aber das kann ich ausschließen, denn der Schreibtisch fühlt sich auch wie ein Schreibtisch an. Wie also sollte hier ein Irrtum möglich sein?
Träumen wir?
An dieser Stelle kann der Skeptiker sich auf eine Möglichkeit der Täuschung berufen, die eine Stufe tiefer ansetzt, nicht bei unseren Sinnen, sondern direkt in unserem Bewusstsein. So könnte es beispielsweise sein, dass ich nur halluziniere oder träume, vor einem Schreibtisch zu sitzen. Die Tatsache, dass ich auch eine (Tast-)Empfindung habe, als würde ich mich auf einen Schreibtisch stützen, schließt diese Möglichkeit nicht aus, denn was für das Gesehene gilt, gilt auch für das Gefühlte: Beides könnte das bloße Produkt meines (halluzinierenden oder träumenden) Geistes sein. Es gibt, wie es scheint, kein Kriterium, mit dem man Wacherfahrungen auf der einen und halluzinatorische beziehungsweise Traumerfahrungen auf der anderen Seite voneinander unterscheiden kann. Zieht man solche Täuschungsmöglichkeiten in Betracht, so erweitert sich der Kreis des in Frage gestellten Wissens schlagartig. All unsere Überzeugungen, die wir vermeintlich aus der Wahrnehmung gewinnen, könnten doch, wie es scheint, das Ergebnis von Halluzinationen und Träumen sein. Ein Irrtum wäre also, wie es der Skeptiker behauptet, immer möglich.
So schnell sollten wir allerdings noch nicht aufgeben. Immerhin ist das Phänomen des Traumes uns allen gut bekannt, und auch über Halluzinationen wissen wir einiges. Insbesondere wissen wir, dass beide von ganz anderer Qualität sind als gewöhnliche Sinneswahrnehmungen. Worin genau die Unterschiede bestehen, ist nicht ganz leicht zu beschreiben. Man könnte etwa darauf hinweisen, dass Träume und Halluzinationen typischerweise nicht so kohärent sind wie echte Erfahrungen, dass Träume eher Tagträumen und Vorstellungen gleichen als Wahrnehmungen, dass Halluzinationen typischerweise mit anderen, gut erkennbaren Symptomen einhergehen (etwa mit Schwindelgefühlen etc.) und so weiter. Wollte man hier eine genauere Beschreibung geben, so müsste man den Traumforscher oder Psychiater zu Rate ziehen, also jemanden, der sich wissenschaftlich mit den entsprechenden Phänomenen beschäftigt. Aber auch ohne eine solche Beschreibung wird man kaum bestreiten wollen, dass es Unterschiede zwischen Träumen und Halluzinationen auf der einen und Wahrnehmungen auf der anderen Seite gibt. John L. Austin bringt das in folgender Weise anschaulich auf den Punkt: Schriftsteller und Filmemacher versuchen gelegentlich, mit meistens geringem Erfolg, bestimmten Passagen eine traumartige Qualität zu geben. Wären Träume tatsächlich von Wacherfahrungen nicht zu unterscheiden, dann wäre die traumartige Qualität nicht schwer zu erzeugen, sondern überhaupt nicht zu vermeiden: Alles wäre traumartig (vgl. (217), S. 48ff.). Das ist nicht der Fall. Anscheinend kann ich daher durchaus ausschließen, dass ich jetzt nur träume oder halluziniere, einen Schreibtisch vor mir zu sehen und zu fühlen – meine Erfahrung hat überhaupt nichts Traumartiges oder Halluzinationsartiges an sich.
Böse Dämonen und Gehirne im Tank
Gibt es aber nicht auch völlig realistische Träume und Halluzinationen? Man muss über diesen Punkt nicht lange streiten, denn die Mittel des Skeptikers sind mit dem Hinweis auf Träume und Halluzinationen noch keineswegs erschöpft. Um zu zeigen, dass ein Irrtum immer möglich ist, muss dieser sich nämlich nicht unbedingt auf mehr oder weniger vertraute Fehlermöglichkeiten berufen. Er kann völlig fremdartige Fehlerquellen ins Spiel bringen. So kann der Skeptiker beispielsweise fragen, wie wir denn ausschließen wollen, dass unsere (scheinbaren) Wahrnehmungen von einem bösen Dämon (genius malignus) hervorgerufen werden. Das jedenfalls scheint doch immer möglich zu sein. Diese von Descartes ins Spiel gebrachte Möglichkeit hat eine moderne Entsprechung in Putnams Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank gefunden (vgl. (48), 1. Meditation, (62), 1. Kapitel): Nehmen wir an, ein böser Wissenschaftler betäubt einen Menschen, entfernt während der Narkose operativ dessen Gehirn, legt dieses in eine Nährlösung und verbindet die Nervenenden mit einem Supercomputer, der dazu in der Lage ist, dem Gehirn all die Reize zu liefern, die es normalerweise erhält (also nicht nur Sinnesreize, etwa über die Sehnerven, sondern auch solche die „körperintern“ hervorgerufen werden, etwa über das Rückenmark). Wenn der Patient erwacht, bemerkt er überhaupt nicht, dass sich etwas geändert hat. Der Wissenschaftler spiegelt ihm mit Hilfe des Supercomputers Dinge vor, die bei der Person keinerlei Verdacht erregen. Dennoch passiert in Wirklichkeit nichts von dem, was der Wissenschaftler der Person vorspiegelt. Die Frage ist nun: Woher wissen wir, dass wir nicht diese Person sind?
Man könnte natürlich einwenden, dass wir genug über die Welt wissen, um die genannte Möglichkeit ausschließen zu können. Wir wissen ja, dass weder die Chirurgie noch die Computertechnik genügend weit fortgeschritten für ein solches Experiment ist. Aber wir können unsere Geschichte so erweitern, dass der böse Wissenschaftler auch noch das Gedächtnis der Person manipulieren kann. Die Person erinnert sich dann einfach nicht mehr an die Berichte über die bahnbrechenden (aber auch gefährlichen) Erfolge der Wissenschaft. Woher wissen wir, dass wir nicht diese Person sind?
Radikale Skepsis und Fallibilismus
Die Antwort scheint nur sein zu können: Wir wissen es nicht. Und damit hat der Skeptiker zunächst einmal gezeigt, was er zeigen wollte, nämlich dass ein Irrtum immer möglich ist. Wir können einfach nicht ausschließen, dass unsere Wahrnehmung das Produkt einer Manipulation durch einen bösen Dämon oder Wissenschaftler ist. Man könnte denken, dass der Skeptiker damit noch nicht allzu viel gewonnen hat. Natürlich, wenn es uns um absolute Gewissheit gehen würde – Descartes ging es genau darum –, dann hätte der Skeptiker gezeigt, dass wir diese nicht erreichen können, weil ein Fehler immer möglich ist. Aber können wir nicht Fallibilisten sein – also einräumen, dass jede unserer Überzeugungen falsch sein kann –, ohne deshalb die Möglichkeit von Wissen überhaupt in Frage zu stellen? Natürlich müssen wahrscheinliche Fehler ausgeschlossen werden, aber Gewissheit scheint für Wissen (jedenfalls für Wissen im gewöhnlichen Sinn) keine notwendige Bedingung zu sein (vgl. Kapitel 4.4).
Tatsächlich hilft uns das jedoch nicht viel. Die geschilderte Überlegung des Skeptikers bringt auch den Fallibilisten in Bedrängnis. Denn es ist nicht nur so, dass wir eine Manipulation durch einen bösen Dämon oder Wissenschaftler nicht mit letzter Gewissheit ausschließen können. Wir können noch nicht einmal sicherstellen, dass eine solche Manipulation unwahrscheinlich ist. Denn worauf sollten wir dieses Urteil stützen? Alles was wir hier anführen könnten, könnte ja selbst das Produkt einer Manipulation sein. Darum haben wir schlicht überhaupt keinen Grund, zu glauben, dass unsere Wahrnehmungen in der vermuteten Weise und nicht durch Manipulation verursacht werden. Aber dann kann wohl auch der Fallibilist nicht mehr behaupten, dass wir durch Wahrnehmung zu Wissen gelangen können. All unser angebliches „Wahrnehmungswissen“ erweist sich tatsächlich als Nichtwissen. Wir kommen somit zu einem radikalen Skeptizismus. Das ist etwas ganz anderes als die gewöhnliche Skepsis, die wir jedem vernünftigen Menschen empfehlen würden. Natürlich sollte man nicht leichtfertig alles glauben. Aber der radikale Skeptiker konfrontiert uns mit der These, dass wir in bestimmten Bereichen – auf die Frage, welche das sind, werden wir gleich zurückkommen (vgl. Kapitel 2.3) – überhaupt nichts wissen können.
Descartes und die cartesische Skepsis
In diesem Abschnitt sind wir im Wesentlichen den Überlegungen gefolgt, die Descartes in der ersten seiner Meditationen darlegt (vgl. (48)). Descartes ging es darum, ein sicheres Fundament zu finden, auf dem sich die Wissenschaft aufbauen lässt. Zu diesem Zweck wollte er zunächst einmal systematisch klären, welche Überzeugungen sich nicht als Fundament eignen, weil sie angezweifelt werden können. Descartes war aber kein Skeptiker. Er war der Meinung, dass sein methodischer Zweifel ihn letztlich zu Überzeugungen führt, die nicht mehr bezweifelbar sind und die dementsprechend als Fundament dienen können (vgl. Kapitel 6.4 sowie (58), 2. und 4. Kapitel). Übrigens war, wie wir ebenfalls im sechsten Kapitel noch sehen werden, auch Putnam der Ansicht, dass die Gehirn-im-Tank-Möglichkeit ausgeschlossen werden kann.
Descartes ging es um Gewissheit. Wie wir gerade gesehen haben, sind seine skeptischen Überlegungen aber auch für denjenigen gefährlich, dem es „nur“ um (fallibilistisch verstandenes) Wissen geht. Der Bezug auf so genannte skeptische Hypothesen (also etwa die Hypothese, dass ich träumen könnte, dass ein böser Dämon mich täuscht oder dass ein verrückter Wissenschaftler am Werk ist) ermöglicht es dem Skeptiker, wie es scheint, eine radikale Skepsis zu begründen. Immer wenn skeptische Hypothesen in dieser Weise eine zentrale Rolle in der Argumentation des Skeptikers spielen, spricht man üblicherweise von einer cartesischen Skepsis. Da Descartes kein Skeptiker war, war er selbst jedoch auch kein cartesischer Skeptiker.