Читать книгу Einführung in die Erkenntnistheorie - Gerhard Ernst - Страница 9
1.2 Erkenntnistheorie und andere Disziplinen
ОглавлениеPhilosophische Arbeitsteilung
Die Fragen, die sich an die Frage nach der Natur des Wissens anschließen, werden jedoch nur teilweise im Rahmen der philosophischen Erkenntnistheorie behandelt. Die Frage nach der Natur von Überzeugungen gehört beispielsweise eher in die Philosophie des Geistes als in die Erkenntnistheorie. Wie in allen Wissenschaften gibt es auch in der Philosophie eine Arbeitsteilung. Wollte man alle Fragen auf einmal beantworten, könnte man keine beantworten. Es ist deshalb durchaus legitim, bestimmte Begriffe im Rahmen einer philosophischen Teildisziplin als gegeben anzusehen, wohl wissend, dass diese Begriffe in anderen Kontexten selbst klärungsbedürftig sind.
Allerdings darf man sich gerade in der Philosophie nicht zu sehr auf die Ergebnisse der Arbeitsteilung verlassen. Dazu hängen philosophische Fragen zu eng miteinander zusammen. So kann es beispielsweise durchaus sein, dass man eine bestimmte Auffassung von der Natur des Wissens gerade deshalb für plausibel hält, weil man eine bestimmte Ansicht zur Natur von Überzeugungen vertritt. Welche Fragen im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Untersuchung beantwortet werden müssen und welche Fragen man beruhigt delegieren kann, lässt sich daher nur schwer allgemein beantworten. Wir werden von Einzelfall zu Einzelfall entscheiden müssen.
Welche philosophischen Disziplinen man als Nachbarn der Erkenntnistheorie ansieht, hängt davon ab, mit welchen Begriffen man die Natur des Wissens klären möchte. Neben dem Begriff der Überzeugung kommen hier eine ganze Reihe von weiteren Begriffen in Frage. Fast alle Philosophen sind beispielsweise der Ansicht, dass Wissen etwas mit Wahrheit zu tun hat. Da es sich bei dem Begriff der Wahrheit um einen Begriff handelt, der sowohl in der Sprachphilosophie als auch in der Metaphysik eine entscheidende Rolle spielt, kann man auch diese beiden Disziplinen als Nachbarn der Erkenntnistheorie ansehen. In Bezug auf die Sprachphilosophie gibt es darüber hinaus eine weitere Verbindung, die sich nicht aus dem Inhalt, sondern aus der Methode der Erkenntnistheorie ergibt. Diese Verbindung wird im 3. Kapitel untersucht werden.
Weiterhin spielt der Begriff des Grundes beziehungsweise der Begriff der Rechtfertigung eine große Rolle in der Erkenntnistheorie. Das liegt vor allem daran, dass viele Erkenntnistheoretiker der Ansicht sind, dass nur derjenige Wissen hat, der über eine angemessene Rechtfertigung beziehungsweise über adäquate Gründe für eine entsprechende Überzeugung verfügt. Mit dem Begriff der Rechtfertigung hängt der Begriff der Rationalität eng zusammen. Dementsprechend wird die Rationalitätstheorie mit ihren direkten Verbindungen zur Entscheidungstheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie und Logik für die Erkenntnistheorie relevant. Die Tatsache, dass es nicht nur Gründe für Überzeugungen, sondern auch Gründe für Handlungen gibt und beide offensichtlich wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen, bringt die Erkenntnistheorie zudem in Verbindung mit Fragen, die üblicherweise in der Handlungstheorie und Metaethik diskutiert werden, also in Disziplinen, die man gewöhnlich zur praktischen Philosophie rechnet. Manche Philosophen würden sogar soweit gehen, die ganze Erkenntnistheorie als eine „Ethik des Meinens“ aufzufassen (vgl. (33), S. 39–47).
Nicht alle Erkenntnistheoretiker betrachten jedoch den Begriff der Rechtfertigung als zentral. Andere denken eher, dass Wissen sich dadurch auszeichnet, dass es in einer speziellen Weise erworben wird, etwa durch bestimmte kausale Prozesse, jedenfalls aber durch verlässliche Methoden. Kausalität und Verlässlichkeit sind Begriffe, deren Klärung Aufgabe vor allem der Wissenschaftstheorie ist (die ihrerseits wieder Verbindungen zur Wahrscheinlichkeitstheorie und zur Logik aufweist).
Hinzu kommt, dass man die Frage nach der Natur des Wissens möglicherweise in Abhängigkeit vom jeweiligen Wissensinhalt beantworten möchte. Moralisches Wissen ist vielleicht etwas anderes als wissenschaftliches Wissen. Und wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich vielleicht seiner Natur nach von unserem gewöhnlichen Alltagswissen. Dementsprechend sind für die Erkenntnistheorie auch die philosophischen Überlegungen von Interesse, die sich mit bestimmten Wissensbereichen beschäftigen, also beispielsweise die Metaethik, die sich unter anderem mit dem Phänomen moralischer Erkenntnis befasst, die Wissenschaftstheorie, in der es insbesondere um die Besonderheiten wissenschaftlichen Wissens geht, und die Philosophie der Mathematik, die nach der Natur mathematischer Einsichten fragt. Auf diesen Punkt werden wir im neunten Kapitel noch einmal zurückkommen.
Ein kurzer Blick in die Geschichte
Die Liste der möglichen Verbindungen zwischen der Erkenntnistheorie und anderen philosophischen Disziplinen ist damit keineswegs vollständig, aber das Bisherige reicht wohl aus, um deutlich zu machen, wie sehr die Erkenntnistheorie in das Netz der philosophischen Disziplinen integriert ist – so sehr, dass die Erkenntnistheorie lange Zeit (sicher bis ins 19. Jahrhundert hinein) überhaupt nicht als eigenständige philosophische Disziplin wahrgenommen wurde, obwohl erkenntnistheoretische Überlegungen natürlich schon seit es die Philosophie in unserem Sinn überhaupt gibt, also seit der Antike, zu deren festem Kanon gehören und spätestens seit dem 17. Jahrhundert eine privilegierte Rolle in der Philosophie spielen. So können beispielsweise René Descartes’ Discours de la Méthode, seine Meditationes, John Lockes An Essay Concerning Human Understanding, George Berkeleys A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, David Humes A Treatise of Human Nature und An Enquiry Concerning Human Understanding und nicht zuletzt Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft als Klassiker der Erkenntnistheorie gelten. Dass die Erkenntnistheorie gerade im 17. Jahrhundert in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses gerückt ist, hat bestimmte philosophiehistorische, aber auch außerphilosophische Gründe, die hier nicht weiter ausgeführt werden können. Fest steht, dass sie seither den Status einer philosophischen Grunddisziplin nicht verloren hat, auch wenn ihr im 20. Jahrhundert in der so genannten Analytischen Philosophie die Sprachphilosophie und in der „nicht-analytischen“ Tradition die Ontologie, also die „Lehre vom Sein“, den Anspruch, die „erste Philosophie“ zu sein, streitig gemacht hat.
Philosophische Erkenntnistheorie und nicht-philosophische Disziplinen
Bisher war nur von der Verbindung zwischen der Erkenntnistheorie und anderen philosophischen Disziplinen die Rede. Gibt es nicht auch Verbindungen zu nicht-philosophischen Bereichen der Wissenschaft? Auf den ersten Blick betrachtet könnte man das vermuten, denn immerhin beschäftigt sich nicht nur die Philosophie, sondern auch die Psychologie, die Neurowissenschaften, ja sogar die Evolutionsforschung und die Informatik – man denke etwa an Forschung zur Künstlichen Intelligenz – mit Wissen. Ob allerdings wirklich eine interessante Verbindung zwischen der philosophischen Erkenntnistheorie und anderen so genannten Kognitionswissenschaften besteht, hängt davon ab, wie man das erkenntnistheoretische Projekt (und die Philosophie insgesamt) auffasst: Manche Erkenntnistheoretiker sind der Ansicht, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen der Erkenntnistheorie und den genannten Bereichen der Wissenschaft gibt, während andere Philosophen an eine ziemlich scharfe Grenze zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften und damit auch zwischen Erkenntnistheorie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen glauben. Wir werden aufdiese Fragen im dritten Kapitel zu sprechen kommen.