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1.1 Die zwei Grundfragen der Erkenntnistheorie
ОглавлениеDas Staunen über unser Wissen
„Wissen Sie, wie Sie heißen?“ – Kaum jemand wird diese Frage mit „Nein“ beantworten. Und doch ist es erstaunlich, wie schwer es uns fällt, die Frage zu beantworten, woher wir wissen, wie wir heißen. Ich kann mich nicht daran erinnern, von meinen Eltern oder von sonst jemandem gesagt bekommen zu haben, wie ich heiße. Und selbst wenn ich das könnte: Woher weiß ich, dass ich nicht belogen wurde? Und selbst wenn ich wüsste, dass ich nicht absichtlich belogen wurde: Woher weiß ich, dass es nicht in dem Krankenhaus, in dem ich zur Welt kam, eine Verwechslung gegeben hat? Wer auch immer mir gesagt hat, wie ich heiße, könnte selbst im Irrtum gewesen sein. Weiß ich also doch nicht, wie ich heiße? Oder weiß ich es, obwohl ich nicht weiß, woher ich es weiß? Aber kann man dann wirklich davon sprechen, dass ich es weiß?
Wenn uns selbst die Frage, woher wir wissen, wie wir heißen, in Verlegenheit bringt, dann kann es mit unserem Wissen allgemein nicht weit her sein. Denn was wissen wir schon besser als unseren eigenen Namen? Kein Wunder also, wenn Sokrates legendärerweise (wenn auch in keiner antiken Quelle; vgl. aber (199), Apologie 21d) zu dem niederschmetternden Ergebnis kommt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Ja, man möchte sogar nachfragen, woher er das denn zu wissen glaubt. Denn wenn das Wissen um das eigene Nichtwissen das einzige Wissen ist, das Sokrates besitzt, wird es ihm schwerfallen, diese Frage zu beantworten: Wüsste er, woher er weiß, dass er nichts weiß, dann wüsste er ja bereits mehr als das. Andererseits ist es natürlich fraglich, ob Sokrates wirklich weiß, dass er nichts weiß, wenn er nicht weiß, woher er das weiß. Weiß er also nicht einmal das?
Wer solche Überlegungen als verwirrend, vielleicht sogar als beunruhigend empfindet, hat bereits den ersten Schritt in die Erkenntnistheorie getan. Wie alle philosophischen Disziplinen nimmt diese ihren Ausgangspunkt dort, wo uns etwas scheinbar ganz Klares plötzlich verwirrend erscheint. Nach Platon beginnt die Philosophie mit dem Staunen (vgl. (199), Theätet 155d) – nicht mit dem Staunen über das Ungewöhnliche, sondern mit dem Staunen über das Gewöhnliche! Jeder staunt über ein rechnendes Pferd. Der Philosoph aber staunt darüber, dass die meisten Menschen zu wissen glauben, wie sie heißen. Er lässt sich davon beunruhigen, dass er nicht versteht, was scheinbar ganz selbstverständlich ist. (In dieser grammatischen Konstruktion beziehen sich die Ausdrücke „der Philosoph“ und „er“ natürlich auf alle Philosophen – nicht nur auf Männer. Entsprechend sind im Folgenden alle derartigen Wendungen als neutral in Bezug auf das Geschlecht zu verstehen.)
Wenn man damit beginnt, über das Phänomen menschlicher Erkenntnis nachzudenken, erweist sich bald vieles als nicht mehr selbstverständlich. Zunächst einmal zeigt sich, dass es überhaupt nicht klar ist, ob wir all das, oder zumindest das meiste von dem, was wir zu wissen glauben, tatsächlich wissen. Die Überlegung, mit der wir begonnen haben, deutet eher darauf hin, dass wir überhaupt nichts wirklich wissen. Tatsächlich gibt es verschiedene Versuche, unser Wissen systematisch in Zweifel zu ziehen. Es geht dann nicht mehr allein darum, bezüglich dieser oder jener einzelnen Überzeugung nachzuweisen, dass es sich nicht um Wissen handelt. Vielmehr sollen ganze Klassen von Überzeugungen, also beispielsweise all die Überzeugungen, die sich auf unsere Wahrnehmung gründen, oder all die Überzeugungen, die wir über die Vergangenheit haben, bezweifelt werden.
Die erste Grundfrage der Erkenntnistheorie
Argumente, die zeigen sollen, dass wir (in bestimmten Bereichen oder ganz allgemein) über keinerlei Wissen verfügen können, werden als skeptische Argumente bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit diesen Argumenten ist eine der Hauptaufgaben der Erkenntnistheorie. Viele Erkenntnistheoretiker würden sogar sagen, dass es sich um die wichtigste Aufgabe der Erkenntnistheorie handelt, um die Aufgabe, welche überhaupt erst eine philosophische Erkenntnistheorie ins Leben ruft (vgl. (73), S. 35). Meistens wird die Aufgabe so verstanden, dass es darum geht, den Skeptiker zu widerlegen – wir glauben einfach nicht, dass wir so gut wie nichts wissen. Aber auch falls es uns nicht gelingt, den Skeptiker zu widerlegen – und tatsächlich ist die Geschichte der Skepsiswiderlegungen nach allgemeiner Ansicht nicht gerade eine Erfolgsgeschichte – gilt es jedenfalls zu klären, in welchem Umfang der Skeptiker gegebenenfalls Recht hat, was also der mögliche Umfang unserer Erkenntnis letztlich ist, oder, wie Kant es formulierte, die Frage zu beantworten: „Was kann ich wissen?“ (Vgl. (93), A805/B833.) Ob sich dann zeigt, dass wir Wissen in nennenswertem Umfang besitzen können oder nicht, sollten wir zunächst einmal lieber offen lassen. Die Frage nach dem möglichen Umfang unseres Wissens kann man als die erste Grundfrage der Erkenntnistheorie bezeichnen.
Beachte
Erste Grundfrage der Erkenntnistheorie: Was können wir wissen?
Es ist klar, dass eine Antwort auf diese Frage für unser Selbstverständnis von großer Bedeutung ist. Darum haben wir es hier nicht nur mit der Grundfrage der Erkenntnistheorie, sondern mit einer zentralen Frage der Philosophie überhaupt zu tun.
Die zweite Grundfrage der Erkenntnistheorie
Die Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis ist vielleicht die Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie. Aber es ist sicherlich nicht die Aufgabe, die wir zuerst erledigen können. Das liegt daran, dass die erste Grundfrage unmittelbar eine weitere nach sich zieht. Wenn wir wissen wollen, was wir wissen können, dann müssen wir uns nämlich zunächst einmal Klarheit darüber verschaffen, was Wissen eigentlich ist. Wie sollte man beurteilen, ob man etwas haben kann, wovon man nicht genau weiß, was es ist? Die Frage nach der Natur oder, wie es traditionell genannt wird, dem Wesen des Wissens ist dementsprechend die zweite Grundfrage der Erkenntnistheorie. Wir werden sehen, dass es, ähnlich wie bei der ersten Frage, auch hier eine (mehr oder weniger) selbstverständliche Antwort gibt, die sich jedoch ebenfalls bei genauerem Nachfragen als alles andere als selbstverständlich erweist (vgl. Kapitel 5.1).
Beachte
Zweite Grundfrage der Erkenntnistheorie: Was ist Wissen?
Auch die zweite Grundfrage zieht, wie noch zu zeigen sein wird, eine ganze Reihe von weiteren Fragen nach sich. Welche das im Einzelnen sind, kann jedoch nicht schon im Voraus bestimmt werden. Es hängt nämlich davon ab, wie man die zweite Grundfrage beantwortet. Möchte man beispielsweise sagen, dass nur derjenige weiß, dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, der auch glaubt, dass das der Fall ist, dass also eine entsprechende Überzeugung zur Natur von Wissen gehört, so wird man im Folgenden gerne genauer wissen wollen, was eigentlich eine Überzeugung ist – was die Natur von Überzeugungen ist. Entsprechendes gilt für andere „Bestandteile“ des Wissens. Eine Wesensfrage lädt immer zu weiteren Wesensfragen ein.