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2.3 Die Reichweite der Skepsis

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Welches Wissen wird durch die beiden beschriebenen Argumente eigentlich in Frage gestellt? Während das Agrippa-Trilemma scheinbar unmittelbar zeigt, dass wir überhaupt kein Wissen haben können, haben wir bei unserer Beschreibung der cartesischen Skepsis bisher lediglich unser durch Wahrnehmung erworbenes Wissen über die „Außenwelt“, das heißt die Welt physischer Objekte, betrachtet. Die Wahrnehmung ist jedoch nicht die einzige Quelle der Erkenntnis – die meisten Philosophen betrachten die Erinnerung, manche die Introspektion, die Vernunft und das Zeugnis anderer als weitere Quellen –, und die Außenwelt ist nicht der einzige Bereich, über den wir etwas zu wissen glauben. Diese Beschränkung kann man jedoch leicht aufheben.

Wissen über das Fremdpsychische

Betrachten wir beispielsweise all die Überzeugungen, die wir über die geistigen Zustände anderer Menschen haben, Überzeugungen über das Fremdpsychische, wie man sagt. Ich weiß, dass Fritz vor Neugier fast platzt, dass Claudia über den Tod ihrer Katze traurig ist, dass Robert gerne einen Roller hätte und dass Sonja glaubt, „tortellini a la panna“ hieße „Tortellini aus der Pfanne“ – jedenfalls glaube ich all das zu wissen. Auch hier kann man zunächst einmal einzelne Wissensansprüche angreifen: Weiß ich wirklich, dass Sonja die genannte Überzeugung hat? Oder könnte es sein, dass sie sich nur über mich lustig machen will? Der radikale Skeptiker kann jedoch durch die Verwendung skeptischer Hypothesen alle Überzeugungen über Fremdpsychisches auf einmal in Frage stellen: Woher, so fragt der Skeptiker, weiß ich nämlich, dass Fritz, Claudia, Robert und Sonja überhaupt geistige Zustände haben? Könnte es nicht sein, dass sie alle nichts anderes als komplizierte Maschinen sind? (Man denke etwa an den Film Terminator.) Oder dass sie zwar aus Fleisch und Blut sind, aber keinen Geist haben, sondern sich rein mechanisch so verhalten, wie sie es tun? (Man denke etwa an Die Nacht der lebenden Toten.) Gibt es außer mir selbst überhaupt ein Wesen, das einen Geist hat?

Genau wie beim Wissen über die Außenwelt scheine ich auch hier überhaupt keinen Grund für meine entsprechenden Überzeugungen anführen zu können. Denn auch hier gilt: Alles, was ich als Grund anführen könnte, ist selbst von dem Zweifel betroffen. Wollte ich etwa als Grund dafür, dass Claudia über den Tod ihrer Katze traurig ist, anführen, dass ich ja weiß, dass sie glaubt, dass ihre Katze tot ist, und dass Claudia ihre Katze geliebt hat, so begründe ich eine Überzeugung über Claudias geistigen Zustand mit zwei weiteren Überzeugungen über ihre geistigen Zustände. Die Frage war aber, woher ich überhaupt weiß, dass sie geistige Zustände hat. Wie beim Wissen über die Außenwelt ziehen die skeptischen Hypothesen auch hier all unsere Überzeugungen aus einem bestimmten Bereich auf einmal in Zweifel (vgl. (68)). Und da wir Wissen über die Außenwelt letztlich nur durch anderes Wissen über die Außenwelt und Wissen über Fremdpsychisches nur durch anderes Wissen über Fremdpsychisches begründen können, gibt es keinen Ausweg aus der skeptischen Falle.

Wissen über die Vergangenheit

Wissen über die Außenwelt und Wissen über Fremdpsychisches sind nicht die einzigen Wissensbereiche, die in dieser Weise abgeschlossene Klassen bilden. Entsprechend verhält es sich auch mit all unserem Wissen über die Vergangenheit. Woher wissen wir, so fragt Russell (vgl. (64), S. 159–160), dass die Welt mit all ihren Zeugnissen der Vergangenheit (insbesondere mit all unseren Erinnerungen), nicht erst vor fünf Minuten erschaffen wurde? Wiederum können wir Überzeugungen über die Vergangenheit nur durch andere Überzeugungen über die Vergangenheit begründen. Und da die skeptische Hypothese all unsere Überzeugungen über die Vergangenheit auf einmal in Frage stellt, bleibt wiederum überhaupt kein Grund übrig.

Wissen über die Zukunft und wissenschaftliches Wissen

Mit unseren Überzeugungen über die Zukunft verhält es sich nicht anders. Woher wissen wir, dass die Welt nicht morgen auf einen Schlag untergehen wird? Hier möchte man dem Skeptiker vielleicht Folgendes entgegnen: Können wir nicht aus unserem Wissen über die Gegenwart und die Vergangenheit auf die Zukunft schließen? Tut nicht genau das die Wissenschaft mit großem Erfolg? Ist es nicht ihre Aufgabe, aus vergangenen Regelmäßigkeiten allgemeine Gesetze abzuleiten, die dann auch Vorhersagen gestatten? Dass diese Aufgabe unerfüllbar ist, behauptet der Induktionsskeptiker.

Induktive, abduktive und deduktive Schlüsse

Als induktiven Schluss bezeichnet man einen Schluss von mehreren beobachteten Einzelfällen auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit. Beispielsweise: Ich habe schon viele Raben gesehen, die alle schwarz waren, und schließe daraus, dass alle Raben schwarz sind. Wie die so genannten abduktiven Schlüsse, bei denen man von einem beobachteten Einzelfall auf die beste Erklärung für diesen Einzelfall schließt – zum Beispiel: Ich habe Fußspuren am Strand gesehen und schließe daraus, dass da ein Mensch gegangen ist –, aber anders als deduktive Schlüsse, sind induktive Schlüsse nicht unbedingt wahrheitserhaltend: Ein gültiger deduktiver Schluss ist so definiert, dass es nicht möglich ist, dass seine Prämissen wahr sind, aber seine Konklusion falsch. Wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dann kann es nicht sein, dass Sokrates unsterblich ist. Der deduktive Schluss „überträgt“ die Wahrheit von den Prämissen auf die Konklusion; er „erhält“ insofern die Wahrheit. Im Unterschied dazu folgt bei induktiven und abduktiven Schlüssen die Wahrheit der Konklusion nicht zwingend aus der Wahrheit der Prämissen. Es kann durchaus sein, dass viele Einzelfälle sich anders verhalten als die entsprechende Gesamtheit, und es kann auch sein, dass nicht unbedingt das tatsächlich passiert ist, was einen vorliegenden Einzelfall am besten erklären würde. Auch wenn alle Raben, die ich bisher gesehen habe, schwarz sind, könnte es unter den Raben, die ich noch nicht gesehen habe, nicht-schwarze Exemplare geben; und auch, wenn die Fußspuren am Strand am besten dadurch erklärt werden, dass da ein Mensch gegangen ist, könnte es tatsächlich ein mutierter Affe gewesen sein.

Das Problem der Induktion

Der Induktionsskeptiker fragt nun gerade, was uns berechtigt, von den beobachteten Fällen auf die nicht beobachteten Fälle zu schließen, anders gesagt: Er stellt die Legitimität induktiver Schlüsse in Frage. Wie aber soll man begründen, dass diese Schlüsse vernünftig sind? Da es sich nicht um deduktive Schlüsse handelt, gibt es keine logische Begründung. Also können wir, wie es scheint, nur noch darauf hinweisen, dass induktive Schlüsse sich bisher stets als erfolgreich erwiesen haben und darum auch in Zukunft erfolgreich sein werden. Aber das ist gerade selbst ein induktiver Schluss, auf den wir uns zur Begründung der Legitimität induktiver Schlüsse nicht berufen können. Wir sind also wieder in der bekannten Situation: Induktive Schlüsse lassen sich nur induktiv begründen. Das kann man auch so ausdrücken: Wissen, das über die Beobachtung hinausgeht, lässt sich nur durch Wissen begründen, das ebenfalls über die Beobachtung hinausgeht. Der Induktionsskeptiker zieht all unser Wissen, das über die (gegenwärtige und vergangene) Beobachtung hinausgeht, aber auf einmal in Frage.

Vor allem David Hume hat auf diese Form der Skepsis aufmerksam gemacht. Er war zwar der Ansicht, dass beobachtete Regelmäßigkeiten in uns bestimmte Erwartungen erzeugen. Das aber betrachtete er als rein psychischen Prozess. Es gibt, wie er betont, keinen Grund zu glauben, dass sich die Zukunft wie die Vergangenheit verhalten wird. Wenn ich immer wieder schwarze Raben sehe, werde ich gewohnheitsmäßig auch vom nächsten Raben erwarten, dass er schwarz ist. Aber nichts, was ich weiß, spricht wirklich dafür, dass er schwarz sein wird. Er könnte genauso gut rosa sein (vgl. (55), Abschnitt 1.3., 1.4.1., (54), sec. 4ff.).

Das „neue Rätsel der Induktion“

Eine moderne Variante der Induktionsskepsis ergibt sich aus folgender Überlegung Nelson Goodmans (vgl. (50), 3. Kapitel): Nehmen wir an, wir beobachten eine Vielzahl von Smaragden. Sie alle erweisen sich als grün, und daraus schließen wir, dass alle Smaragde grün sind. Insbesondere kommen wir zu der Prognose, dass Smaragde, die wir noch nicht beobachtet haben, auch grün sind. Nun definieren wir ein neues Prädikat, das Prädikat „grot“:

Beachte

Definition: Grot sind all die Dinge, die vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurden und grün sind, sowie all die Dinge, die nicht vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurden und rot sind.

Als Zeitpunkt t wählen wir gerade den jetzigen Zeitpunkt. Damit ergibt sich folgendes Problem: Alle Smaragde, die wir bisher beobachtet haben, wurden vor dem Zeitpunkt t beobachtet und sie waren grün. Also waren sie unserer Definition entsprechend auch grot. Schließen wir aber aus der Tatsache, dass alle bisher beobachteten Smaragde grot waren, darauf, dass alle Smaragde grot sind, so müssen wir annehmen, dass Smaragde, die nicht vor dem Zeitpunkt t beoabchtet wurden, rot sind (denn grot sind nicht vor dem Zeitpunkt t beobachtete Smaragde nur, wenn sie rot sind). Das steht aber im Widerspruch zu unserer ursprünglichen Prognose, dass sie grün sind. Aber beide Prognosen beruhen auf exakt denselben Beobachtungsdaten: Grote und grüne Smaragde sehen bis zum Zeitpunkt t genau gleich aus. Hat man die Konstruktion des grot-Prädikats durchschaut, so sieht man, dass jede beliebige Prognose sich in gleicher Weise mit den bisherigen Beobachtungen „rechtfertigen“ lässt – man muss nur statt „rot“ irgendeine andere Eigenschaft in die Definition einsetzen. Das heißt aber nichts anderes als: Die bisherigen Beobachtungen sagen uns überhaupt nichts über die Zukunft!

Bedeutung und Regelfolgen

Die Induktionsskepsis in dieser modernen Variante führt uns unmittelbar zu einem weiteren Anwendungsgebiet der skeptischen Herausforderung. Denn der Skeptiker kann jetzt fragen, woher wir eigentlich wissen, dass „grün“ nicht tatsächlich „grot“ bedeutet. Natürlich verwenden alle das Wort „grün“. Aber wer sagt uns, dass nicht alle eigentlich „grot“ damit meinen? Vielleicht wäre ich ja der einzige Mensch auf der Erde, der überrascht wäre, wenn Smaragde in Zukunft rot wären. Vielleicht würden alle anderen Menschen ja sagen: „Wir haben doch schon immer gesagt, dass Smaragde grün (also grot) sind.“ Kurzum: Woher weiß ich eigentlich, dass die Worte, die ich verwende, das bedeuten, was ich glaube, dass sie bedeuten? In seinem Wittgenstein-Buch beschreibt Kripke dieses Problem als eine Skepsis bezüglich der Möglichkeit einer (in diesem Fall sprachlichen) Regel zu folgen (vgl. (57)): Da ich die Regeln zur Verwendung eines Wortes nur aufgrund vergangener und gegenwärtiger Verwendungen erlerne, ist unklar, wie ich eine Regel jemals auf zukünftige Anwendungen fortsetzen kann. Das Wort „grün“ und das Wort „grot“ unterscheiden sich nun einmal nicht im Hinblick auf ihre vergangenen Verwendungen! Wie schon in Bezug auf die anderen Wissensbereiche, die der Skeptiker sich vorgenommen hat, sind wir auch hier wieder in der unangenehmen Position, alles Wissen über die Bedeutung eines Wortes nur durch anderes Wissen über die Bedeutung von Wörtern rechtfertigen zu können. Aber auf genau dieses Wissen dürfen wir uns nicht berufen, wenn der Skeptiker all unser Bedeutungswissen auf einmal in Frage stellt.

Es gibt noch weitere Bereiche des Wissens, die in ähnlicher Weise skeptischen Angriffen ausgesetzt sind (mathematisches Wissen, Wissen um Modalitäten, moralisches Wissen etc.). Offensichtlich kann der Skeptiker so gut wie all unser Wissen in Frage stellen. Natürlich wollen wir sagen: Das kann doch nicht sein! Zugegeben, vieles wissen wir nicht, vielleicht sogar vieles von dem, was wir zu wissen glauben. Aber ganz sicher wissen wir irgendetwas über die Außenwelt, den Geist anderer Menschen etc. Der Skeptiker kann einfach nicht Recht haben. Andererseits erscheinen uns seine Überlegungen zwingend zu sein. Wir sind hier in einer nach Wittgenstein für die Philosophie typischen Problemsituation: „‚Es ist doch nicht so!‘ – sagen wir. ‚Aber es muss doch so sein!‘“ (vgl. (113), § 112). Insbesondere geraten wir hier in eine Spannungssituation, die Hume beschrieben hat: Im Arbeitszimmer behält der Skeptiker die Oberhand, aber sobald wir zum alltäglichen Leben zurückkehren, haben seine Argumente keinen Einfluss mehr auf unsere Überzeugungen (vgl. (55), Abschnitt 1.4.7.). Das ist sicherlich keine befriedigende Lage. Betrachten wir, ob die Erkenntnistheorie uns weiterhelfen kann!

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