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3.2 Naturalismus

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Kritik an der analytisch-synthetisch-Unterscheidung

Gegner des Apriorismus können an verschiedenen Punkten ansetzen. So kann man sich beispielsweise nur dann auf die Möglichkeit analytisch apriorischer Erkenntnis berufen, wenn es tatsächlich sinnvoll ist, zwischen „analytisch“ und „synthetisch“ zu unterscheiden. Genau das bestreitet Quine in seinem berühmten Aufsatz „Two dogmas of empiricism“ (vgl. (109)). Quine betrachtet dort zunächst verschiedene Versuche, den Begriff der Analytizität verständlich zu machen. All diese Versuche erweisen sich nach seiner Ansicht als unzureichend. So hatten wir beispielsweise erklärt, eine Aussage sei analytisch wahr, wenn sie allein aufgrund der Bedeutung der in ihr enthaltenen Ausdrücke wahr ist. Aber wann ist das der Fall? In unserem Beispielsatz „Junggesellen sind unverheiratete Männer“ beruht die Wahrheit auf der Bedeutungsgleichheit (der Synonymie) der Ausdrücke „Junggeselle“ und „unverheirateter Mann“. Wollte man den Begriff der Analytizität aber mit dem Begriff der Synonoymie verständlich machen, so müsste vorweg geklärt werden, was Synonymie eigentlich ist. Das scheint aber wiederum nur durch den Hinweis auf analytische Sätze möglich zu sein. So kann man beispielsweise sagen, dass die Ausdrücke A und B synonym sind, wenn der Satz „Alle A’s sind B’s“ analytisch wahr ist. In ähnlich zirkuläre Erklärungen kommt man, so Quine, wenn man andere Wege zur Explikation des Begriffs der Analytizität einschlägt.

Man könnte meinen, dass Quine hier eine prinzipiell unerfüllbare Forderung stellt. Einerseits soll der Begriff der Analytizität durch andere Begriffe definiert werden. Andererseits sollen diese anderen Begriffe nicht ihrerseits durch den Begriff der Analytizität definierbar sein. Aber das ist natürlich nicht möglich. Wenn A durch B definiert werden kann, kann immer auch B durch A definiert werden. Das Problem, das Quine aufzeigt, besteht aber nicht darin, dass der Begriff der Analytizität zu einer Gruppe von Begriffen gehört, die zwar wechselseitig, aber nicht „von außen“ definierbar sind. Vielmehr sieht Quine die Schwierigkeit darin, dass keiner dieser Begriffe letztlich verständlich gemacht werden kann. Das liegt zum einen daran, dass nach Quines Ansicht, linguistische Ausdrücke wie „analytisch“ und „synonym“ auf rein empiristischer, genauer: auf rein behavioristischer Grundlage, also durch den Verweis auf von außen beobachtbare Aspekte unseres (sprachlichen) Verhaltens, geklärt werden müssen. Zum anderen liegt es an Quines Auffassung, dass sich immer nur unsere Sicht der Welt als ganze, nicht aber ein einzelner Satz an der Erfahrung bewähren oder an ihr scheitern kann. Man spricht hier von der Quine-Duhem-These beziehungsweise vom Holismus (vgl. (109), (85)). So könnte man beispielsweise versuchen, den Begriff des analytisch wahren Satzes auf folgende Weise zu erklären: Ein Satz ist analytisch wahr, wenn wir ihm zustimmen würden, ganz gleich, welche Erfahrungen wir tatsächlich machen. Diese Definition würde die Forderung Quines nach einer behavioristischen Erklärung erfüllen. Aber der Holismus hat zur Folge, dass sie nicht adäquat ist: Da immer nur unsere Sicht der Welt als Ganze auf dem Prüfstand der Erfahrung steht, können wir jeden beliebigen Satz mit unserer Erfahrung in Einklang bringen, solange wir nur bereit sind, unser Überzeugungssystem an anderer Stelle entsprechend zu ändern. So kann ich beispielsweise die Überzeugung, dass ich fliegen kann, aufrechterhalten, wenn ich nur bereit bin, genügend andere Überzeugungen aufzugeben (wie etwa die Überzeugung, dass meine Sinne, die mir immer wieder meine mangelnden Flugfähigkeiten vor Augen führen, verlässlich sind). Und das Gegenstück zu Quines Behauptung, dass jede beliebige Überzeugung aufrecht erhalten werden kann „come what may“, ist natürlich die Behauptung, dass auch jede beliebige Überzeugung (nach Quine selbst grundlegende logische Überzeugungen) im Lichte der Erfahrung revidierbar sind. Damit fällt die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen in sich zusammen.

Kritik an der Kritik

Quines Überlegung ist allerdings in mehrerer Hinsicht problematisch. Zum einen kann man bestreiten, dass nur Erklärungen linguistischer Begriffe, die der Behaviorist akzeptiert, akzeptabel sind. Das behavioristische Paradigma ist, vor allem durch die Arbeiten Chomskys (vgl. (83)), in der Linguistik längst nicht mehr vorherrschend, und damit eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten zur Bestimmung der analytisch-synthetisch-Unterscheidung und anderer semantischer Begriffe (vgl. (94)). Zum anderen kann man natürlich versuchen, Quines Anforderungen tatsächlich zu erfüllen. Quine zeigt lediglich, dass bestimmte Definitionsversuche scheitern. Daraus folgt nicht, dass es keine (nach seinen Maßstäben) erfolgreiche Definition geben kann. Müller argumentiert beispielsweise dafür, dass es tatsächlich eine Definition gibt, die sowohl Quines Behaviorismus als auch seinem Holismus gerecht wird (vgl. (106), (107)). Dass Quines These von der Unverständlichkeit der analytisch-synthetisch-Unterscheidung überzogen sein muss, kann man bereits daraus ableiten, dass wir die Unterscheidung durch klare Beispiele erläutern können: Sätze wie „Junggesellen sind unverheiratet“, „Erpel sind männliche Enten“, „Aus A folgt A“ und Sätze, die diesen in relevanter Hinsicht ähnlich sind, sind analytisch wahr, alle anderen wahren Sätze sind synthetisch wahr. Wir haben im Alltag kein Problem damit, zwischen sinnlosen und falschen Sätzen, zwischen sprachlichen und faktischen Fehlern, zwischen nicht verstehen und nicht glauben zu unterscheiden. Darauf haben vor allem Strawson und Grice hingewiesen (vgl. (89)). Dass es auch Sätze gibt, bei denen wir nicht so einfach sagen können, ob sie analytisch sind oder nicht, wie etwa Quines Beispiel „Alles Grüne ist ausgedehnt“, zeigt in Anbetracht der klaren Beispiele lediglich, dass die Unterscheidung vielleicht nicht völlig trennscharf ist. Nach Ansicht des aprioristisch gesinnten Erkenntnistheoretikers bewegen wir uns jedoch in Bezug auf die Analyse der erkenntnistheoretisch relevanten Begriffe stets im klar analytischen Bereich. Nach Ansicht seines Gegners ist das gerade nicht der Fall. Der Leser muss sich anhand der Wissenstheorien, die in späteren Kapiteln untersucht werden, eine eigene Meinung bilden.

Naturalisierte Erkenntnistheorie

Was wäre, wenn Quine Recht hätte? Zunächst einmal gäbe es keine scharfe Grenze mehr zwischen philosophischen Untersuchungen auf der einen und empirischer Forschung auf der anderen Seite. In beiden Bereichen ginge es darum, unser Überzeugungssystem an die Erfordernisse der Erfahrung anzupassen. Aufgabe speziell der Erkenntnistheorie wäre es dann, zu erklären, auf welche Weise wir diese Anpassung vornehmen, wie wir also auf Grundlage einer (schmalen) Erfahrungsbasis zu (weit reichenden) wissenschaftlichen Theorien kommen. Das wäre nach Quine eine empirische Untersuchung. Die Erkenntnistheorie würde auf diese Weise „naturalisiert“, das heißt als Teil der Naturwissenschaften (insbesondere der empirischen Psychologie) etabliert. Damit ergäbe sich nach Quine insbesondere die Chance, von der (unfruchtbaren) Auseinandersetzung mit der skeptischen Herausforderung (endlich) Abschied zu nehmen (vgl. (110)).

Empirische Wesenserkenntnis

Das Programm einer naturalisierten Erkenntnistheorie wird nach wie vor intensiv verfolgt. Dass man dabei nicht einmal den Anspruch aufgeben muss, die Natur des Wissens zu klären, scheint sich aus einigen Überlegungen Saul Kripkes und Hilary Putnams zu ergeben (vgl. (101), (108)). Nach Kant, so hatten wir gesehen, gibt es eine enge Verbindung zwischen Notwendigkeit und Apriorizität. Kripke argumentiert nun dafür, dass es notwendige Wahrheiten gibt, die nur a posteriori erkannt werden können, aber auch kontingente Wahrheiten, die a priori erkannt werden können. Vor allem Ersteres ist für den Naturalisten von Interesse. Betrachten wir ein Beispiel. Nach Ansicht Kripkes ist es eine notwendige Wahrheit, dass Wasser H2O ist. Würde man uns nämlich eine Substanz vorsetzen, die zwar aussieht wie Wasser, schmeckt wie Wasser, riecht wie Wasser etc., aber kein H2O wäre, dann könnten wir nicht zu Recht sagen, Wasser vor uns zu haben. Dennoch kann man nicht a priori erkennen, dass Wasser H2O ist. Tatsächlich mussten viele Chemiker erst über lange Zeit hinweg empirische Forschungen anstellen, um zu erkennen, dass es sich bei Wasser eben um diese chemische Verbindung handelt. Wir haben es also mit der empirischen Entdeckung eines notwendigen Zusammenhangs zu tun. Die Chemie hat hier das Wesen einer bestimmten, wie man sagt, natürlichen Art, nämlich Wasser, entdeckt.

Wissen als natürliche Art

Ein Ansatzpunkt des Naturalisten besteht jetzt darin, Wissen ebenfalls als eine natürliche Art zu betrachten, deren Natur man auf empirischem Weg bestimmen kann. Diesen Ansatz verfolgt vor allem Hilary Kornblith (vgl. (99), (100)). Wie geht man dabei vor? Zunächst greifen wir typische Fälle von Wissen heraus. Dann untersuchen wir diese Fälle mit den Methoden aller potenziell relevanten Wissenschaften, also psychologisch, soziologisch, neurophysiologisch, evolutionstheoretisch, etc. – diese Disziplinen erweisen sich so als Nachbardisziplinen der Erkenntnistheorie (vgl. 1. Kapitel) –, und auf diese Weise erkennen wir schließlich, was Wissen eigentlich ist. Dabei kann es dann sogar passieren, dass wir ursprünglich klare Fälle von Wissen letztlich nicht mehr als Fälle von Wissen ansehen.

Wissenschaftliche Erkenntnis und Begriffsexplikation

Vorbild ist hier gerade das naturwissenschaftliche Vorgehen. Wenn wir wissen wollen, was Wasser ist, dann nehmen wir uns zunächst Proben, die wir eindeutig als Wasser klassifizieren. Dann untersuchen wir diese Proben mit den Methoden der Chemie und Physik und stellen so fest, mit was wir es eigentlich zu tun haben. Das kann dann ebenfalls dazu führen, dass wir nicht mehr alles, was wir ursprünglich als Wasser ansahen, auch später als Wasser klassifizieren. (Was beispielsweise aus dem Wasserhahn kommt, ist kein reines Wasser.) Es hätte sogar passieren können, dass wir Wasser überhaupt nicht mehr als eine natürliche Art betrachten, sondern als ein Gemisch aus grund legenderen Bestandteilen. Und ebenso könnte es passieren, dass sich Wissen nicht als natürliche Art erweist, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich ist. Diese Vorgehensweise entspricht etwa dem, was Carnap vor Augen hat, wenn er von einer Begriffsexplikation spricht. Diese zeichnet sich durch die folgenden vier Bedingungen aus (vgl. (80), S. 15):

1. Der zu analysierende Begriff, das Explikandum, muss ähnliche Anwendungsfälle haben wie das Ergebnis der Analyse, das Explikat. Eine genaue Übereinstimmung der Anwendungsfälle ist aber nicht gefordert.

2. Die Regeln für den Gebrauch des Explikats müssen exakt sein.

3. Das Explikat soll wissenschaftlich fruchtbar sein.

4. Das Explikat soll möglichst einfach sein.

Probleme des Naturalismus

Auch der naturalistische Ansatz ist mit Schwierigkeiten konfrontiert. So kann anscheinend auch der Naturalist nicht ganz auf apriorische Erkenntnis verzichten, denn Kripkes Beispiele zeigen zwar vielleicht, dass bestimmte notwendige Zusammenhänge nur a posteriori erkannt werden können; die Tatsache, dass diese Zusammenhänge notwendige Zusammenhänge sind, wird aber auch hier nicht a posteriori erkannt! Möchte man also erkennen, welche Eigenschaften Wissen notwendigerweise zukommen, so ist man anscheinend nach wie vor auf apriorische Erkenntnis angewiesen. Diese betrachtet der Naturalist aber gerade mit Misstrauen. Umgekehrt kann man aber auch den Begriff der Notwendigkeit, den der Naturalist benötigt, mit Misstrauen betrachten. So handelt es sich beispielsweise bei der notwendigen Wahrheit, dass Wasser H2O ist, ja gerade nicht um eine begriffliche Notwendigkeit. Der Satz „Wasser ist H2O“ kann kaum als analytisch wahrer Satz angesehen werden, denn nicht jeder, der die in diesem Satz enthaltenen Wörter und den Aufbau des Satzes versteht, weiß, dass er wahr ist – zum Leidwesen der Chemielehrer. Man spricht deshalb im Fall von Wahrheiten wie „Wasser ist H2O“ von metaphysischer Notwendigkeit. Und man kann durchaus der Ansicht sein, dass dieser Begriff mindestens ebenso geheimnisvoll ist wie der Begriff der (nicht-analytischen) apriorischen Erkenntnis.

Welcher der beiden Ansätze – Apriorismus oder Naturalismus – für die Philosophie im Allgemeinen angemessen ist beziehungsweise ob überhaupt ein Ansatz zugunsten des anderen aufgegeben werden muss, kann hier nicht diskutiert werden. Fest steht jedoch, dass im Rahmen der Erkenntnistheorie der aprioristische Ansatz klar dominiert. Das gilt weniger im Hinblick auf die erklärten methodischen Vorlieben zeitgenössischer Philosophen – viele Philosophen bekennen sich zum Naturalismus. Es zeigt sich vielmehr daran, wie die meisten Philosophen de facto vorgehen. Die zentralen Ergebnisse der Erkenntnistheorie sind nicht das Ergebnis psychologischer, soziologischer oder anderer naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Vielmehr sind sie das Ergebnis der Standardmethode des Aprioristen: der Begriffsanalyse. Mit ihr müssen wir uns nun genauer beschäftigen.

Einführung in die Erkenntnistheorie

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